Bispezifischer Antikörper verbessert Sehkraft |
Kerstin A. Gräfe |
09.11.2022 07:00 Uhr |
Faricimab zeigte in allen Studien eine schnelle und konsistente Visusverbesserung. / Foto: Getty images/Tetra Images
In Deutschland leiden mehr als 1,2 Millionen Menschen an nAMD oder DMÖ — Tendenz steigend. Beide Netzhauterkrankungen zählen weltweit zu den häufigsten Ursachen für den Verlust der Sehkraft. Faricimab (Vabysmo® 120 mg/ml Injektionslösung, Roche) ist das erste Medikament, das für erwachsene Patienten eine zeitgleiche Zulassung in beiden Indikationen ab der Erstlinie erhalten hat.
Der neue Antikörper hat einen bispezifischen Wirkansatz. Neben dem bekannten Signalweg VEGF-A (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor) hemmt er zusätzlich Angiopoietin-2 (Ang-2). VEGF-A stimuliert das pathologische Gefäßneuwachstum im Bereich der Netzhaut und steigert die vaskuläre Permeabilität. Ang-2 fördert die Destabilisierung des Endothels, den Verlust von Perizyten und die pathologische Angiogenese, was eine vaskuläre Instabilität zur Folge hat. Vaskuläre Leckagen und Entzündungen werden verstärkt. Zudem sensibilisiert Ang-2 die Blutgefäße für die Aktivität des VEGF-A, was die Gefäße noch weiter destabilisiert. Insofern macht der bispezifische Ansatz Sinn: Werden VEGF-A und Ang-2 durch Faricimab blockiert, wird die pathologische Angiogenese gehemmt und die Gefäßstabilität wiederhergestellt
Faricimab muss wie andere Therapieoptionen direkt in den Glaskörper gespritzt wird. Für die Anwendung bei nAMD beträgt die empfohlene Dosis 6 mg alle vier Wochen für die ersten vier Dosen. Nach 20 und/oder 24 Wochen wird eine Beurteilung der Krankheitsaktivität empfohlen, basierend auf den anatomischen und/oder visuellen Befunden, um die Behandlung individuell anpassen zu können. Bei Patienten ohne Krankheitsaktivität ist unmittelbar nach der Aufsättigungsphase eine Verabreichung alle vier Monate zu erwägen, bei Patienten mit Krankheitsaktivität alle zwei oder drei Monate. Für Behandlungsintervalle von zwei Wochen oder weniger zwischen den Injektionen gibt es nur begrenzte Sicherheitsdaten.
Faricimab wird unter aseptischen Bedingungen direkt in den Glaskörper gespritzt. / Foto: Prof FG Holz_Bonn
Beim DMÖ beträgt die empfohlene Dosis 6 mg alle vier Wochen für die ersten vier Dosen. Anschließend wird die Behandlung in Abhängigkeit von der Krankheitsaktivität individuell angepasst. Basierend auf der ärztlichen Beurteilung der anatomischen und/oder visuellen Befunde kann das Dosierungsintervall nach der Aufsättigungsphase in Schritten von bis zu vier Wochen, gemäß einem Treat and Extend-Schema, auf bis zu vier Monate verlängert werden. Wenn sich die anatomischen und/oder visuellen Befunde verschlechtern, ist das Intervall zu verkürzen. Behandlungsintervalle mit weniger als vier Wochen zwischen den Injektionen wurden nicht untersucht.
Unmittelbar nach der Injektion von Faricimab sind die Patienten auf eine mögliche Erhöhung des Augeninnendrucks zu überwachen. Eine vorübergehende Erhöhung wurde innerhalb von 60 Minuten nach der Applikation beobachtet. Besondere Vorsicht ist bei Patienten mit schlecht eingestelltem Glaukom geboten. Vabysmo darf nicht injiziert werden, solange der Augeninnendruck ≥ 30 mmHg beträgt.
Intravitreale Injektionen können per se mit Endophthalmitis, intraokularer Entzündung, rhegmatogener Netzhautablösung und Netzhauteinriss assoziiert sein. Vabysmo muss immer unter aseptischen Bedingungen injiziert werden. Die Patienten sollten angewiesen werden, alle Symptome wie Schmerzen, Sehverlust, verschwommenes Sehen, Mouches volantes (Glaskörpertrübung) oder Rötung, die auf eine Endophthalmitis oder eine der aufgeführten Nebenwirkungen hinweisen, unverzüglich zu melden, um eine sofortige und angemessene Behandlung zu ermöglichen.
Vorsicht ist geboten bei Patienten mit Risikofaktoren für die Entwicklung eines Einrisses des retinalen Pigmentepithels (RPE). Dabei handelt es sich um eine Komplikation der Abhebung des Pigmentepithels (pigment epithelial detachment – PED) bei Patienten mit nAMD. RPE-Einrisse kommen häufig vor bei nAMD-Patienten mit PED, die mit Anti-VEGF-Mitteln einschließlich Faricimab intravitreal behandelt werden. In der Faricimab-Gruppe war die Rate der RPE-Einrisse höher (2,9 Prozent) als in der Aflibercept-Gruppe (1,4 Prozent). Die meisten Ereignisse traten während der Aufsättigungsphase auf und waren leicht bis mäßig, ohne Auswirkungen auf das Sehvermögen.
Kontraindiziert ist Vabysmo bei aktiven oder vermuteten okularen oder periokularen Infektionen sowie bei aktiver intraokularer Entzündung.
Basierend auf der Biotransformation und Elimination von Faricimab sind keine Wechselwirkungen zu erwarten. Faricimab sollte jedoch nicht gleichzeitig mit anderen systemischen oder okularen Anti-VEGF-Arzneimitteln verabreicht werden.
Vabysmo hat einen geringen Einfluss auf die Verkehrstüchtigkeit und die Fähigkeit zum Bedienen von Maschinen. Vorübergehende Sehstörungen können nach der intravitrealen Injektion und der damit einhergehenden Augenuntersuchung auftreten. Patienten sollten kein Fahrzeug führen und keine Maschinen bedienen, bis sich ihr Sehvermögen wieder ausreichend erholt hat.
Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandlung sowie nach der letzten Injektion für mindestens drei Monate eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Der neue Wirkstoff darf während der Schwangerschaft nicht zum Einsatz kommen, es sei denn, der potenzielle Nutzen überwiegt das Risiko für den Fetus. In der Stillzeit ist zu entscheiden, ob auf das Stillen oder die Faricimab-Gabe verzichtet wird.
Die Zulassung basiert auf den Phase-III-Studien TENAYA und LUCERNE bei nAMD sowie YOSEMITE und RHINE beim DMÖ mit insgesamt 3220 Patienten. Bei den Teilnehmern mit DMÖ konnte das Therapieintervall nach vier monatlichen Dosen in Vier-Wochen-Schritten gemäß einem Treat and Extend-Schema bis auf 16 Wochen verlängert werden. Bei jenen mit nAMD war dies bei fehlenden Anzeichen von Krankheitsaktivität in Woche 20 und 24 unmittelbar nach der Aufsättigungsphase möglich. Primärer Endpunkt war der Nachweis der Nicht-Unterlegenheit von Vabysmo im Vergleich zu Aflibercept in Bezug auf die Veränderung der bestkorrigierten Sehschärfe (Best-corrected Visual Acuity, BCVA) nach einem Jahr.
In allen vier Studien wurde der primäre Endpunkt erreicht. Bei Patienten mit DMÖ wurden mit Vabysmo im ersten Studienjahr Visusverbesserungen um durchschnittlich 11,6 (YOSEMITE) beziehungsweise 10,8 (RHINE) Buchstaben erzielt (Aflibercept: +10,9 beziehungsweise +10,3 Buchstaben) und bei jenen mit nAMD um durchschnittlich 5,8 (TENAYA) beziehungsweise 6,6 (LUCERNE) Buchstaben (Aflibercept: +5,6 beziehungsweise +6,6 Buchstaben). Im zweiten Jahr blieben die Verbesserungen bei durchschnittlich nur drei Injektionen erhalten. In allen Studien erreichten im Zwei-Jahres-Verlauf etwa 78 Prozent der mit Vabysmo behandelten Patienten ein Intervall von drei oder vier Monaten.
Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen waren Katarakt, Bindehautblutung, erhöhter Augeninnendruck, Mouches volantes, Augenschmerzen und Einriss des retinalen Pigmentepithels (nur nAMD).
Faricimab ist eine typische Schrittinnovation. Der bispezifische Antikörper adressiert nicht nur — wie andere Therapieoptionen — den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF-A), sondern zusätzlich auch Angiopoietin-2 (Ang-2). Dies ist neu. Ang-2 führt unter anderem dazu, dass Zellen für die Wirkung von VEGF-A empfindlicher werden, und verstärkt den negativen Einfluss von VEGF-A auf die Stabilität und Durchlässigkeit von Gefäßen sowie entzündliche Prozesse. Daher macht der bispezifische Ansatz Sinn. Es können dank Faricimab also zwei verschiedene Signalwege gehemmt werden, die für pathologische Prozesse bei retinalen Erkrankungen verantwortlich sind. Auch die Studienergebnisse überzeugen.
Die Gabe muss leider auch im Fall von Faricimab direkt in den Glaskörper erfolgen. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass nach einer Startphase der Antikörper nur noch selten injiziert werden muss, gegebenenfalls nur alle vier Monate. Das würde die Lebensqualität betroffener Patienten steigern, was die vorläufige Einstufung als Schrittinnovation ebenfalls untermauert.
Sven Siebenand, Chefredakteur