Bakterien mit ihren eigenen Waffen schlagen |
Annette Rößler |
10.06.2022 09:30 Uhr |
Die größten Konkurrenten von Bakterien im Kampf um Nährstoffe und Lebensraum sind andere Bakterien. Viele von ihnen produzieren daher Antibiotika, um die Konkurrenz auszuschalten. / Foto: Adobe Stock/picture-waterfall
Bakterien stehen in ihrer natürlichen Umgebung in ständiger Konkurrenz mit anderen Bakterien. Daher produzieren viele von ihnen Substanzen, die andere Bakterien abtöten – Antibiotika. Diesen Umstand hat man sich in der Vergangenheit bereits häufig zunutze gemacht, indem man diese Antibiotika entweder direkt therapeutisch einsetzte oder als Vorlage für Weiterentwicklungen nutzte. Besonders ergiebig war dabei die Familie Streptomyces.
Eine Voraussetzung für die Nutzung der bakterieneigenen Antibiotika ist allerdings, dass sich ihre Produzenten im Labor anzüchten lassen. Diese Eigenschaft haben die meisten Bakterien jedoch nicht. Forscher um Professor Dr. Sean F. Brady von der Rockefeller University in New York haben nun einen Ansatz entwickelt, mit dem sich dieses Problem umgehen lässt: Mit Methoden der Bioinformatik leiten die Wissenschaftler aus Genanalysen von Bakterien ab, wie die chemische Struktur der von ihnen produzierten Antibiotika wahrscheinlich aussieht. Diese Moleküle bauen die Forscher dann nach, testen sie und optimieren sie abhängig von den Ergebnissen dieser Tests gegebenenfalls noch weiter.
Das jüngste Produkt dieses Prozesses heißt Cilagicin und wird von der Forschergruppe im Fachjournal »Science« präsentiert. Demnach wurde die Substanz ausgehend von einem bakteriellen Gencluster namens Cil gefunden, daher der Name. Cilagicin binde wahrscheinlich an die beiden eng verwandten Moleküle C55-P und C55-PP, die grampositive Bakterien für die Zellwandsynthese brauchen, so die Autoren um Erstautor Dr. Zongqiang Wang. Mit Blick auf mögliche Resistenzen sei der zweifache Angriffspunkt ein großer Vorteil gegenüber anderen Antibiotika, glauben die Forscher.
Im Labor erwies sich Cilagicin als wirksam gegen diverse grampositive Bakterien, darunter auch solche mit vorhandenen Resistenzen, und war dabei unschädlich für menschliche Zellen. In ersten In-vivo-Experimenten war das neue Antibiotikum auch wirksam bei Mäusen. Bevor an einen breiten Einsatz beim Menschen zu denken sei, müsse der Wirkstoff aber in zusätzlichen Studien mit Tieren weiter verbessert werden, heißt es in einer Pressemitteilung der Universität.
Unabhängig davon, ob Cilagicin es zur Marktreife schaffen wird oder nicht, hält Brady die Methode für sehr gut geeignet, um neue Antibiotika zu entdecken und zu entwickeln: »Wir glauben, dass wir damit viele bislang unbekannte Naturstoffe erschließen können, die hoffentlich einen spannenden neuen Pool von Arzneistoffkandidaten bilden werden.«
Seine Arbeitsgruppe hatte erst vor wenigen Wochen im Fachjournal »Nature« einen weiteren Kandidaten vorgestellt, nämlich das vom Gencluster Mac abgeleitete Macolacin. Diese Substanz wirkt laut der Publikation gegen gramnegative Bakterien, auch gegen Problemkeime wie multiresistente Acinetobacter baumannii und Neisseria gonorrhoeae, die unempfindlich gegenüber dem Reserveantibiotikum Colistin sind. Auch Macolacin wurde allerdings bislang erst im Mausmodell getestet, sodass noch keineswegs gesagt ist, dass der Wirkstoff letztlich tatsächlich beim Menschen eingesetzt werden wird.