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Inaktivität

Sitzen kann tödlich sein

17.12.2014  09:42 Uhr

Von Christina Hohmann-Jeddi / Wer lange sitzt, ist früher tot. Immer mehr Studien zeigen, dass exzessives Sitzen das Risiko für verschiedene Erkrankungen erhöht, indem es eine Reihe von schädlichen Stoffwechselwegen anstößt. Die negativen Effekte lassen sich auch durch Sport nicht vollständig ausgleichen. Sitzen scheint ein unabhängiger Risikofaktor zu sein

Wieder den ganzen Tag in der Offizin auf den Beinen gewesen? Seien Sie froh, denn damit haben Sie sich etwas Gutes getan. Die Hinweise verdichten sich, dass mehrstündiges Sitzen, wie etwa in Bürojobs üblich, nicht nur schlecht für den Bewegungsapparat und die Haltung ist, sondern auch für den Stoffwechsel. Es erhöht das Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs und verkürzt die Lebenserwartung.

 

Das belegt zum Beispiel eine Untersuchung von Forschern der American Cancer Society um Alpa Patel, die 2010 im »American Journal of Epidemiology« erschien (DOI: 10.1093/aje/kwq155). Der Untersuchung zufolge haben Menschen, die pro Tag mehr als sechs Stunden sitzen, im Vergleich zu Menschen, die weniger als drei Stunden täglich sitzen, ein erhöhtes Sterberisiko: Bei Frauen war es um 34 Prozent, bei Männern um 17 Prozent erhöht. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Forscher um Professor Dr. David Dunstan an der Universität Queensland. Wer mehr als sechs Stunden täglich Fernsehen schaut – in der Regel sitzend –, hat eine um fünf Jahre reduzierte Lebenserwartung, schrieben sie 2012 im »British Journal of Sports Medicine« (DOI: 10.1136/bjsm.2011.085662).

 

Am Schreibtisch, im Auto, auf der Couch, am Esstisch: Den weitaus größten Teil des Tages verbringen Menschen in Industrienationen heutzutage sitzend, nämlich etwa 55 bis 75 Prozent der wachen Zeit. Die Auswirkungen des Sitzens auf den Organismus schildert Professor Dr. Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung: »Kurzfristig nimmt die Stoffwechselaktivität ab, und mit ihr werden sämtliche Organfunktionen reduziert. Leber und Niere arbeiten nicht mehr richtig, die Herzfunktion lässt nach, die Aktivität des Immunsystems sinkt, das Gehirn wird nicht mehr ausreichend versorgt, Müdigkeit und Trägheit machen sich breit.«

 

Negative Effekte

 

Mittelfristig führt dies bei häufigem, länger andauerndem Sitzen zu Problemen, wie Froböse erläutert. Die Muskeln atrophieren, die Herz-Kreislauf-Funktion lässt nach und der Blutdruck steigt, da die Elastizität der Gefäße sinkt. »Die Gelenke werden nicht mehr stabil geführt, die Bänder trocknen aus und der Knorpel wird nicht mehr ausreichend versorgt.« Die Bandscheiben können so Schaden nehmen, was zu Rückenproblemen führt.

 

Außerdem hat längeres Sitzen einen negativen Effekt auf die Psyche. »Viele Stressoren können nicht mehr abgebaut werden, man hat keinen mentalen Ausgleich mehr«, sagt der Sportwissenschaftler. Gravierend sind auch die Auswirkungen des langen Sitzens auf den Stoffwechsel. Denn die inaktiven Muskeln atrophieren nicht nur, sie stellen auch ihre Energiegewinnung von Fett- auf Glucoseverbrennung um. Dadurch reichern sich Fette im Blut, aber auch im Muskel, in der Leber und im Colon an. Dies könnte das erhöhte Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch exzessives Sitzen erklären.

 

»Für mich ist Sitzen das zweite Rauchen«, sagt Froböse. »Oder vielleicht sogar schlimmer.« Denn an Bewegungsmangel sterben in Europa jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen, an den Folgen des Rauchens 750 000.

 

Physiologische Veränderungen

Eine wichtige Rolle bei den durch Inaktivität induzierten metabolischen Veränderungen spielt das Enzym Lipoprotein Lipase (LPL). Ist seine Konzentration niedrig, werden Triglyceride weniger effektiv aus dem Blut entfernt und die Konzentration des HDL-Cholesterols sinkt. Untersuchungen mit Ratten zeigen, dass bei kurzer körperlicher Aktivität, die LPL-Aktivität um den Faktor 2 bis 2,5 ansteigt. Andersherum beginnt die LPL-Aktivität im Muskel bereits nach vier Stunden Inaktivität zu sinken. In der Folge sinken auch die Aufnahme von Triglyceriden in den Muskel und die HDL-Konzentration. Auf Dauer führt das zu Hypertriglyceridämie, Adipositas und einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

 

Inaktive Muskeln verlieren auch ihre Mitochondrien und sprechen zudem schlechter auf Insulin an als aktive. Bei längerem Sitzen entsteht über komplexe Kaskaden bereits nach einem Tag eine Insulinresistenz. Das kann auf Dauer zu Typ-2-Diabetes führen. Negative Effekte sind aber schon viel früher festzustellen. »Nach 45 bis 60 Minuten Sitzen am Stück ist der Kreislauf so reduziert, dass Zellen unterversorgt sind«, erklärt Froböse.

 

Sitzen gefährdet Ihre Gesundheit

 

Dauernde Bewegung, um die negativen Folgen des Rumsitzens abzumildern, ist jedoch für die allermeisten Menschen keine Option. Was kann man ihnen empfehlen? »Wir raten zu fünf Minuten Bewegung pro Stunde Sitzen«, sagte Froböse. Wie genau diese Pausen aussehen müssen, um die metabolischen Veränderungen zu vermeiden, ist noch nicht erforscht. »Umfang, Dauer und Intensität der benötigten Bewegung sind noch unklar«, sagt der Wissenschaftler. »Wir untersuchen dies zurzeit in einer Studie.«

 

Schon Stehen bedeutet mehr Arbeit für die Muskeln als Sitzen. »Wenn ich eine Stunde sitze, verbrenne ich ein Gramm Fett, im Stehen schon zwei Gramm«, sagt Froböse. Auch Zappeln, etwa mit den Beinen, hat einen Effekt, denn die kleinen Bewegungen summieren sich über den Tag. »Wer zappelt, verbraucht pro Tag etwa 300 bis 350 zusätzliche Kilokalorien und wirkt so Übergewicht entgegen.«

 

Kurze Pausen einbauen

 

Dass kurze Unterbrechungen des Sitzens die metabolischen Folgen abmildern können, zeigt eine Untersuchung von der Arbeitsgruppe um Dunstan der Universität Queensland. Die Forscher ließen Probanden an drei verschiedenen Tagen fünf Stunden Fernsehen schauen, am ersten Tag ungestört, am zweiten und dritten Tag mit Unterbrechungen, in denen sie alle zwanzig Minuten aufstehen und zwei Minuten in mäßiger beziehungsweise leicht erhöhter Geschwindigkeit auf einem Laufband gehen mussten. Am Ende der Untersuchung erhielten die Probanden ein kalorienreiches gesüßtes Getränk, und die Forscher ermittelten den Blutglucosewert und die Insulinantwort. Die Plasma-Insulin-Level und die Blutglucosewerte fielen um 25 Prozent niedriger aus, wenn die Sitzzeit unterbrochen wurde, berichteten die Wissenschaftler 2012 in »Diabetes Care« (DOI: 10.2337/dc11-1931).

 

Bereits kurze Unterbrechungen haben demnach einen Effekt. Die Forscher empfehlen, Filmpausen im Fernsehen zu nutzen, um aufzustehen und etwas zu erledigen. Auch im Berufsalltag sollte das Sitzen regelmäßig unterbrochen werden. »Telefonate können zum Beispiel im Stehen geführt werden«, sagt Froböse. Es sei auch sinnvoll, den Drucker und das Faxgerät nicht direkt neben dem Schreibtisch aufzubauen, sodass man aufstehen muss, um die Dokumente zu holen. Treppen sollten Aufzügen vorgezogen werden. »Bewegung muss in den Alltag zurückkehren.«

 

Sport kompensiert nicht die Risiken

 

Denn eines hat die Inaktivitätsforschung auch gezeigt: Sport kann die metabolischen Folgen des mehrstündigen Sitzens nicht ausgleichen. »Abendliches Joggen kompensiert das lange Sitzen nicht«, sagt Froböse. »Die Änderungen im Körper können nicht rückgängig gemacht werden.« Das bedeutet nicht, dass sportliche Aktivität keinen Nutzen hat, denn die positiven Gesundheitseffekte sind belegt.

 

Es bedeutet aber, dass mehrstündiges Sitzen vermutlich ein eigenständiger Risikofaktor ist, der in Empfehlungen berücksichtigt werden müsste. Geschehen ist dies bereits im Europä­ischen Krebskodex, der im Oktober aktualisiert wurde. Die internationalen Experten sprachen zur Vorbeugung von Tumorerkrankungen neben dem Rat zu sportlicher Aktivität auch explizit die Empfehlung aus, möglichst wenig Zeit im Sitzen zu verbringen. /

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