EU verordnet kindgerechte Arzneimittel |
16.12.2008 13:47 Uhr |
<typohead type="3">EU verordnet kindgerechte Arzneimittel
Von Bettina Sauer, Berlin
Seit Kurzem verpflichtet eine EU-Verordnung pharmazeutische Unternehmen, Arzneimittel auch an Kindern und Jugendlichen zu prüfen. Über die Notwendigkeit informierte der Verband Forschender Arzneimittelhersteller bei einem Presseworkshop in Berlin.
Nicht einmal die Hälfte aller Arzneimittel in Europa verfügt Schätzungen zufolge über eine Zulassung für Kinder und Jugendliche. »Viele Medikamente für Minderjährige sind nicht besonders profitabel«, sagte Privatdozent Dr. Peter-Andreas Löschmann, Medizinischer Direktor der Wyeth Pharma GmbH, zur Begründung. Er referierte bei einem Presseworkshop des VFA Bio, der im Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) für gentechnisch erzeugte, sogenannte Biopharmazeutika zuständig ist. »Die für die Zulassung eines Medikaments erforderlichen klinischen Studien lassen sich zudem bei Kindern weitaus schwerer durchführen als bei Erwachsenen«, führte Löschmann weiter aus. »Sie dauern länger, kosten mehr und galten lange Zeit als unethisch.«
Risiken durch fehlende Daten
Allerdings bergen Arzneimittel ohne Abstimmung auf den kindlichen Körper erhebliche Gesundheitsgefahren. »Kinder verfügen über einen vollkommen anderen Stoffwechsel als Erwachsene«, erläuterte Dr. Frank Mathias, Vorsitzender des VFA Bio. »Daher lässt sich die Dosis oder das Nebenwirkungsspektrum eines Medikaments nicht einfach aus Daten von Erwachsenen ableiten.« Zudem verändere sich der Stoffwechsel im Laufe der kindlichen und jugendlichen Entwicklung erheblich. »Ein Medikament, das ein Zweijähriger gut verträgt, fügt einem Säugling womöglich schwere Schäden zu«, sagte Martina Ochel, Geschäftsführerin des Unternehmens Genzyme bei der Veranstaltung.
Doch bleibe Ärzten oft nichts anderes übrig, als ihren kleinen Patienten Arzneimittel ohne spezielle Zulassung zu verabreichen. Das schrieb Professor Dr. Hannsjörg Seyberth, ehemals Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Marburg, dieses Jahr in einem Fachartikel im »Deutschen Ärzteblatt«. Bei diesen Medikamenten fehlten kontrollierte Dosierempfehlungen, definierte Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg der Therapie, Informationen zu möglichen Neben- und Wechselwirkungen, altersgerechte Darreichungsformen ebenso wie die Produkthaftung durch den Hersteller. Weiter heißt es in dem Artikel: »Die Ärzte überbrücken diese Lücke in der Regel durch persönliche Erfahrung, den Rat von Kollegen, durch anekdotenhafte Berichte, Rückschlüsse aus der Medizin für Erwachsene und mit improvisierten Darreichungsverfahren.« Dabei könnten ernstzunehmende Wirksamkeits- und Sicherheitsprobleme auftreten, wie einige Studien und Berichte belegten.
EU fordert Studien mit Kindern
Diese Bedenken äußern Seyberth und andere engagierte Wissenschaftler schon lange. Schließlich haben die Gesetzgeber auf europäischer Ebene darauf reagiert. Nach einer mehrjährigen Vorbereitungszeit erließen sie Ende 2006 die EU-Verordnung 1901/2006. Diese trat am 26. Januar 2007 in Kraft, ähnelt einer US-amerikanischen Gesetzesregelung von 1997 und dient einer besseren Arzneimittelsicherheit für Kinder. Unter anderem verpflichtet sie die pharmazeutische Industrie in der gesamten EU, Medikamente mit neuen Wirkstoffen, Einsatzgebieten, Darreichungsformen oder Verabreichungswegen auch in Studien mit Minderjährigen zu prüfen, die verschiedene Altersstufen abdecken. Nur in Ausnahmefällen können Unternehmen eine Freistellung beantragen, etwa, wenn die Krankheit, gegen die das neue Medikament dient, nicht bei Kindern auftritt. »Darüber hinaus sind Rückstellungen möglich«, sagte Mathias. »Zum Beispiel, falls es sinnvoll erscheint, zunächst Erfahrungen mit dem Medikament bei Erwachsenen abzuwarten.« Sämtliche Frei- oder Rückstellungsanträge der pharmazeutischen Unternehmen erfordern eine Begründung.
Um die Anträge zu beurteilen, hat die Europäische Arzneimittelzulassungsbehörde EMEA eigens ein kinderheilkundliches Sachverständigengremium eingerichtet, den »Pädiatrieausschuss«. Hier müssen pharmazeutische Unternehmen auch vor Beginn der klinischen Studien einen pädiatrischen Prüfplan zur Begutachtung einreichen, ebenso wie später die Ergebnisse. Als Gegenleistung für den Mehraufwand bekommen Firmen eine Verlängerung der Patentlaufzeit und damit der Marktexklusivität um sechs Monate, selbst wenn klinische Studien zeigen sollten, dass sich das geprüfte Präparat nicht für die Kinder- und Jugendmedizin eignet. Dasselbe gilt für Unternehmen, die für bereits zugelassene, aber noch patentgeschützte Medikamente freiwillig pädiatrische Studiendaten nachreichen.
Selbst für patentfreie Medikamente schafft die EU-Verordnung Anreize für nachträgliche Studien an Minderjährigen. »Sie gewährt gewissermaßen einen zehnjährigen Unterlagenschutz«, erläuterte Mathias. »In diesem Zeitraum dürfen pharmazeutische Wettbewerber eine pädiatrische Zulassungserweiterung nicht übernehmen, ohne selbst klinische Studien durchzuführen.« Außerdem sieht die Verordnung vor, sämtliche pädiatrischen Untersuchungen in die europäische Datenbank für klinische Studien namens EudraCT aufzunehmen. »Eine solche transparente Dokumentation ist wichtig, um unnötige klinische Studien zu vermeiden«, kommentierte Löschmann.
Studienzentren für Kinder
»Grundsätzlich begrüßt der VFA die EU-Verordnung als Chance für mehr kindgerechte Arzneimittel«, sagte Mathias. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, lasse sich allerdings noch nicht absehen. Denn zentrale Artikel der Verordnung gelten erst seit Mitte 2008. »Um die Vorgaben der EU bestmöglich umzusetzen, benötigen wir ein europaweites Netzwerk pädiatrischer Studienzentren«, sagte Mathias. Als Vorbild nannte er das »PAED-Net«, das seit 2002 an sechs deutschen Universitäten klinische Studien mit Kindern durchführt oder konzipieren hilft und zu diesem Zweck Fördergelder vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bezieht. »Solche Kompetenzzentren benötigen wir, um die Sicherheit der klinischen Studien und eine bestmögliche Betreuung der minderjährigen Teilnehmer zu gewährleisten, beziehungsweise um überhaupt ausreichend Kinder und Jugendliche zu rekrutieren.« Beim letztgenannten Punkt könnten alle Kinderärzte in den Kliniken und Praxen helfen, sagte Ochel: »Wer junge Patienten behandelt, für deren Erkrankung es kein zugelassenes Medikament gibt, sollte prüfen, ob sie sich an eine passende klinische Studie vermitteln lassen.« Dafür eigne sich eine Recherche unter www.clinicaltrials.gov. Dort stellen die US-amerikanischen nationalen Gesundheitsinstitute (National Institutes of Health) alle weltweit bekannten laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien zusammen. Im Internetportal der »International Federation of Pharmaceutical Manufacturers & Associations« (IFPMA) lässt sich sogar auf Deutsch nach klinischen Studien suchen (www.ifpma.org).