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Seltene Erkrankungen

Forschung hilft allen, nicht bloß wenigen

11.11.2015  10:00 Uhr

Von Christina Hohmann-Jeddi, Wiesbaden / Seltene Erkrankungen waren lange Zeit Stiefkinder der Medizin, für viele gibt es bis heute keine Therapie. Doch die Erforschung der Erkrankungen lohnt sich – nicht nur für Betroffene, sondern auch für die Allgemeinheit. Denn die gewonnenen Erkenntnisse können zur Entwicklung neuer Substanzklassen auch für häufige Krankheitsbilder führen.

Erkrankungen sind per Definition selten, wenn weniger als einer von 2000 Menschen betroffen ist. Da etwa 6000 bis 8000 solcher Erkrankungen bekannt sind, geht man für Deutschland von vier Millionen Menschen aus, die mit einer seltenen Erkrankung leben. »In der Gesamtheit sind sie also nicht selten«, sagte Professor Dr. Jürgen Schäfer auf einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Wiesbaden.

Mangelndes Wissen und knappe Mittel

 

In den vergangenen Jahren hätten sich die diagnostischen Möglichkeiten zu seltenen Erkrankungen enorm verbessert, berichtete der Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Gießen-Marburg (lesen Sie dazu Seite 42). Doch immer noch seien Patienten häufig unzureichend versorgt. »Bisher mangelt es oftmals schon am Grundverständnis für eine Krankheit«, sagte Schäfer.

 

Die Forschungsförderung – vor allem vonseiten der Industrie – falle noch zu gering aus, kritisierte der Mediziner. Die Industrie hat noch nicht erkannt, dass die Erforschung der seltenen Erkrankungen ein enormes Potenzial bietet. Durch diese habe man viel gelernt, berichtete Schäfer am Beispiel der homozygoten familiären Hyper­cholesterolämie. Bei dieser angeborenen Störung des Lipidstoffwechsels kommt es aufgrund eines Gendefekts zu einer ausgeprägten Erhöhung des LDL-Cholesterols und einer frühen Manifestation einer koronaren Herzkrankheit.

 

»Betroffene sterben zum Teil schon im Kindesalter an Herzinfarkt«, sagte Schäfer. Die Erforschung dieser Erkrankung habe gezeigt, wie wichtig LDL-Cholesterol für die Entstehung von Herzerkrankungen ist und habe letztlich zur Entwicklung von blutfettsenkenden Medikamenten wie Statinen geführt.

 

Als weiteres Beispiel nannte der Mediziner die Abetalipoproteinämie. Bei dieser seltenen angeborenen Lipidstoffwechselstörung liegt ein Defekt im Gen vor, das für eine Untereinheit des mikrosomalen Triglycerid-Transferproteins (MTP) kodiert. Dadurch sind die Fettaufnahme und der Transport von Lipiden im Endoplasmatischen Retikulum gestört. Durch die Erforschung dieser Erkrankung wurde das Protein MTP als Target entdeckt, was zur Entwicklung des MTP-Inhibitors Lomitapid führte, der 2013 in Europa zugelassen wurde.

 

Neue Targets identifiziert

 

Bei Betroffenen mit familiärer Hyper­cholesterolämie wurde 2003 eine Gain-of-Function-Mutation im Gen für PCSK9 entdeckt. PCSK9 steht für Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9. Dieses Enzym bindet an den LDL-Rezeptor und führt zu dessen Abbau, entsprechend hebt es den LDL-Cholesterol-Spiegel im Blut. Inzwischen sind zwei PCSK9-Inhibitoren, die Antikörper Evolocumab und Alirocumab, zur Behandlung Erwachsener mit Hypercholesterolämie zugelassen. »Wenn die Substanzklasse hält, was sie verspricht, wird sie zu einer Revolution in der Kardiologie führen«, sagte Schäfer. Auch im Bereich der Onko­logie und in der Adipositastherapie gebe es interessante Ansätze, die aus Erkenntnissen zu seltenen Erkrankungen stammen.

 

Diese Beispiele zeigten, dass die Kenntnisse der Mechanismen von seltenen Erkrankungen auch dem Verständnis der häufigen Erkrankungen dienen können. Es sei somit nicht nur aus moralischer Sicht notwendig, diese Erkrankungen zu erforschen, um den Betroffenen eine Therapieoption anbieten zu können, sondern auch wissenschaftlich sinnvoll, erklärte Schäfer. Um die Forschungsaktivität zu steigern, sollte jede Universität ein Zentrum für seltene Erkrankungen einrichten. Zudem könnten Pharmaunternehmen eine Art Patenschaft für Forschungsprojekte an Universitäten übernehmen.

 

Aufgrund der geringen Betroffenenzahl ist die Durchführung von klinischen Studien bei seltenen Erkrankungen schwierig. Die Problematik geht aber weit über die geringe Probandenzahl hinaus, machte Privatdozent Dr. Arnt Kristen von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg am Beispiel der Transthyretin-assoziierten familiären Amyloid-Polyneuropathie (TTR-FAP) deutlich. Dieser Erbkrankheit liegt eine Mutation im TTR-Gen zugrunde, die dazu führt, dass das TTR-Protein instabil ist und sich zu Amyloid zusammenlagert, das sich im Nervensystem ansammelt. In der Folge treten Schmerzen, sensomotorische Störungen, muskuläre Schwäche und Muskelatrophie sowie autonome Störungen wie Magen-Darm-Beschwerden auf. »Diese besondere Form der Neuropathie beginnt im Alter von etwa 25 bis 35 Jahren und führt innerhalb von zehn Jahren zum Tod«, erklärte Kristen. Zusätzlich können auch Herz, Leber oder Niere von den Amyloid-Ablagerungen geschädigt werden.

 

Hürden in der Klinik

 

Je nach Art der Mutation im TTR-Gen tritt die Erkrankung in verschiedenen Ausprägungen auf, bei denen kardiologische oder neurologische Symptome im Vordergrund stehen. Und auch bei gleicher Mutation kann sich die Symptomatik von Patient zu Patient unterscheiden. Aufgrund der Variabilität sei es ausgesprochen schwierig, homo­gene Patientenkollektive aufzustellen. Hinzu komme, dass es kaum eine Versorgungsstruktur für die Betroffenen gebe. Insgesamt vier Zentren in Deutschland sind auf die Betreuung von Patienten mit TTR-FAP spezialisiert. Die weiten Wege zu den Behandlungszentren könnten Patienten in späten Stadien der Erkrankung kaum noch zurücklegen, was die Probandenzahl noch weiter einschränke, erklärte Kristen.

 

Trotz dieser Hürden in der klinischen Erprobung wurde bereits eine Substanz zur Therapie der TTR-FAP zugelassen: Der Wirkstoff Tafamidis ist seit 2011 auf dem Markt. Zu weiteren Ansätzen, darunter ein Antisense-Oligonucleotid und Antikörper, liefen derzeit klinischen Studien, berichtete der Referent. »TTR-FAP ist ein erfreuliches Beispiel für eine seltene Erkrankung für die in absehbarer Zukunft effektive Therapien verfügbar sein werden«, sagte Kristen. /

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