Schrott voller Schätze |
13.09.2010 21:37 Uhr |
Von Bettina Sauer / Höchstens 5 Prozent der Erbsubstanz DNA dient beim Menschen als Vorlage zur Bildung von Proteinen. Wozu der Rest gut ist, versuchen Forscher überall auf der Welt herauszufinden.
Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts (Genoms) im Jahr 2000 sorgte für Jubel – aber auch für Ratlosigkeit. Denn dabei stellte sich heraus, dass der Mensch weit weniger Gene besitzt als vorher vermutet, nämlich nur 20 000 bis 25 000. An diesem Befund hat sich seither nicht viel geändert: »Gerade einmal 2 bis 5 Prozent der rund 3,2 Milliarden DNA-Bausteine dienen dem aktuellen Forschungsstand zufolge als Bauanleitung für Proteine«, sagt Professor Dr. Axel Meyer, Evolutionsbiologe von der Universität Konstanz, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung.
Dabei handle es sich nicht etwa um eine Besonderheit des Menschen. Auch im Erbgut vieler Insekten, Wirbeltiere und Pflanzen fänden sich große DNA-Abschnitte, die sich nicht in Proteine übersetzen ließen. »Bezüglich ihrer Herkunft gibt es inzwischen mehrere Theorien«, sagt Meyer. »So könnte es sich dabei beispielsweise zum Teil um genetisches Material von Viren handeln, das sich fest im Genom einer Wirtszelle verankert hat und seither weitervererbt wird.«
2009 veröffentlichten Meyer und seine Kollegen im »Journal of Molecular Evolution« einen Vergleich, wie sich solche »Genwüsten« im Genom von 30 verschiedenen Organismen verteilen (doi: 10.1007/s00239-009-9251-4). Andere Fachartikel und Medienberichte bezeichnen DNA, die nicht als Vorlage für Proteine dient, als »Schrott«- oder »Müll-DNA« (englisch »junk DNA«). Allerdings fänden in jüngster Zeit zunehmend neutrale Begriffe wie etwa »nichtcodierende DNA« Verwendung, sagt Meyer. »Schließlich kostet die Synthese von DNA-Bausteinen eine Menge Energie. Deshalb werden Organismen wohl kaum seit Jahrmillionen überflüssigen Ballast mit sich herumschleppen.« Zudem sei ein »überraschend großer Teil« der nichtcodierenden DNA konserviert, also bei vielen unterschiedlichen Tier- und Pflanzenarten identisch. »Auch diese Beobachtung deutet darauf hin, dass sie wichtige Funktionen erfüllt.«
Rohstoff für neue Gene
Unter anderem scheint sie als Rohstoff zu dienen, aus dem durch zufällige Mutationen und Rekombinationen neue funktionsfähige Gene entstehen. Einen Beleg dafür lieferten Forscher um Professor Dr. Diethard Tautz vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön 2009 im Fachjournal »Current Biology« (doi: 10.1016/j.cub.2009.07.049). Demnach tragen Mäuse auf ihrem Chromosom Nummer 10, inmitten einer ausgedehnten Region von Schrott-DNA, ein Gen, das vor 2,5 bis 3,5 Millionen Jahren durch mehrere aufeinanderfolgende Mutationen entstanden ist und eine Rolle bei der Fortpflanzung spielt. Letzteres belegten die Wissenschaftler, indem sie das Gen bei Mäusen mithilfe des sogenannten Knock-out-Verfahrens gezielt ausschalteten. Das führte bei den Tieren zu einer Verkleinerung der Hoden sowie einer Verlangsamung der Spermien. Die Forscher vermuten, dass sich noch weitaus mehr solcher »de-novo-Gene« identifizieren lassen und die zugrunde liegenden Mechanismen eine wichtige Rolle in der Evolution spielen.
Zudem mehren sich die Hinweise und Belege, dass auch die nichtcodierende DNA wichtige Funktionen innerhalb der Zellen erfüllt. »Inzwischen wurden viele Abschnitte entdeckt, die als Ein- und Ausschalter von Genen dienen«, sagt Meyer. Diese Regler steuerten, wann und in welchem Umfang ein Gen abgelesen, also als Vorlage für die Synthese eines Proteins genutzt wird. »Meistens liegen diese Schalter in direkter Nachbarschaft von Genen, manchmal aber auch sehr weit entfernt.« Letzteres mache die Identifizierung außerordentlich schwierig.
Suche nach RNA-Genen
Forschungsintensiv sei auch die Suche nach den sogenannten nichtcodierenden RNA-Genen. RNA dient als Zwischenprodukt bei der Proteinbiosynthese, übernimmt aber offenbar auch selbst Funktionen im Organismus, wie etwa beim programmierten Zelltod oder der Abwehr von Viren. »Manche Typen von RNA-Molekülen wirken auch als Schalter, mit denen die Genaktivität reguliert wird«, sagt Meyer. Andere blockierten die Proteinbildung auf späteren Stufen. »Zudem werden immer noch RNA-Gruppen mit bislang ungeklärter Funktion und die zugehörigen DNA-Abschnitte entdeckt.«
Manche dieser neuen Erkenntnisse stammen aus dem Projekt Encode (»Encyclopedia of DNA Elements«). Dabei handelt es sich um ein internationales, öffentliches Forschungs-Konsortium, das 2003 als Reaktion auf die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ins Leben gerufen wurde. Es dient dem Ziel, alle codierenden und nichtcodierenden Elemente im menschlichen Erbgut aufzuspüren und ihnen Funktionen zuzuordnen. 2007 veröffentlichten die Forscher die Ergebnisse der Pilotphase im Fachjournal »Nature« (doi: 10.1038/nature05874). Dafür hatten sie 1 Prozent des menschlichen Genoms durchleuchtet. Die restlichen 99 Prozent sollen folgen. Möglicherweise finden sich darin nützliche, vielleicht aber auch überflüssige oder gar gefährliche Abschnitte. Noch bergen die Genwüsten jedenfalls unzählige Geheimnisse. /