Eiswasser für den guten Zweck |
02.09.2014 11:13 Uhr |
Von Daniela Biermann / Eine Welle eiskalten Wassers schwappt um die Welt: Die Ice Bucket Challenge macht auf die seltene Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aufmerksam. Was steckt dahinter?
Bill Gates entwarf eine eigene Konstruktion, George W. Bush ließ sich von Ehefrau Laura begießen, der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch ließ sich gleich mehrfach eiskalt erwischen – und auch nach Deutschland ist die sogenannte Ice Bucket Challenge längst übergeschwappt: Ob Manuel Neuer, Til Schweiger oder Helene Fischer, viele Prominente und noch mehr andere Menschen lassen sich für den guten Zweck, teils sehr kreativ, mit Eiswasser übergießen. Wer mitmacht, spendet 10 Dollar oder mehr, stellt ein Beweisvideo online und darf drei weitere Leute herausfordern. Wer kneift, soll für die Erforschung und Behandlung der Amyotrophen Lateralsklerose mindestens 100 Dollar spenden.
So lehnten US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel dankend ab, griffen jedoch Medienberichten zufolge zum Scheckbuch. Über die Höhe der Spenden ist allerdings nichts bekannt. Viele Prominente spenden aber auch trotz kalter Dusche.
Eine Spendenflut
Somit hat die lustige Aktion einen ernsten Hintergrund. Initiator ist die US-amerikanische ALS Association. Die neurodegenerative Erkrankung hat wohl noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen wie in den vergangenen Wochen. Bis zum 29. August kamen mehr als 100 Millionen US-Dollar (76,2 Millionen Euro) Spenden für die ALS Association zusammen – im Vergleich zu 2,5 Millionen im Vorjahreszeitraum. Und auch deutsche Forschungseinrichtungen und Patientenorganisationen profitieren: So sind bislang bei der ALS-Ambulanz der Berliner Charité mehr als 6000 Spenden im Gesamtwert von 530 000 Euro eingegangen. Das Geld soll in die Forschung nach Therapiemöglichkeiten der unheilbaren Krankheit fließen, aber auch direkt in die Versorgung, denn ALS-Patienten brauchen unter anderem viel Physiotherapie, teure Hilfsmittel und Pflegekräfte.
»Die Arbeit von multiprofessionellen ALS-Teams ist im Vergütungssystem der Krankenkassen leider nicht vorgesehen«, schreibt die Berliner ALS-Ambulanz auf ihrer Website. Die Krankenkassen würden nur 30 Prozent der realen Kosten der Einrichtung übernehmen.
Wer sich einen Eimer Eiswasser über den Kopf schüttet, muss nicht nur seine Hemmungen überwinden. Man verkrampft und der Atem stockt – genauso geht es ALS-Patienten dauerhaft. Schätzungsweise drei bis acht von 100 000 Einwohnern leiden laut ALS-Ambulanz an der chronischen, fortschreitenden Erkrankung des zentralen Nervensystems. Das entspricht 2500 bis 6500 Menschen in Deutschland. Die meisten Betroffenen erkranken zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr, 10 Prozent der Patienten bekommen die Diagnose jedoch vor ihrem 40. Lebensjahr. Männer sind im Verhältnis 1,5 zu 1 häufiger als Frauen betroffen.
Bei ALS gehen vor allem die Nervenzellen zugrunde, die für die bewusste Steuerung der Skelettmuskulatur verantwortlich sind, also motorische Neuronen in Gehirn und Rückenmark. In der Folge erreichen die entsprechenden Muskeln keine Signale mehr, woraufhin die Muskeln verkümmern. Die Betroffenen werden immer dünner und sind häufig auf einen Rollstuhl angewiesen. Einer der prominentesten ALS-Patienten ist wohl der britische Physiker Stephen Hawking, der bereits 1963 im Alter von 20 Jahren die Diagnose einer Sonderform bekam. Er selbst nahm nicht an der Aktion teil, da die Gefahr einer weiteren Lungenentzündung zu groß sei. Der Brite gab die Herausforderung an seine drei erwachsenen Kinder weiter und bat in einem YouTube-Video dringend darum, zu spenden, um »diese schreckliche Krankheit auszulöschen«.
Über Jahre unbemerkt
Die Erkrankung schreitet normalerweise vermutlich über Jahre bis Jahrzehnte unbemerkt voran, bis es zu motorischen Ausfallerscheinungen kommt. Die mittlere Lebenserwartung nach Diagnose beträgt nur drei bis vier Jahre. Die Patienten spüren zunächst eine Muskelschwäche mit Lähmungen, Versteifungen und Spastiken. 40 Prozent bemerken zuerst eine Ungeschicklichkeit der Hände, zum Beispiel beim Rasieren oder Schreiben. Bei weiteren 40 Prozent beginnt die Krankheit an den Beinen, was sich durch eine Gangunsicherheit und Muskelkrämpfe in den Waden bemerkbar macht. Auch Sprech- oder Schluckstörungen sind möglich. Körperwahrnehmung, die Kontrolle von Stuhl und Urin sowie die Gedächtnisfunktion sind in der Regel nicht betroffen, jedoch brauchen viele Patienten bei Fortschreiten der Erkrankung eine Unterstützung der Atemfunktion.
Die Behandlung zielt auf eine Verlangsamung der Progression (neuroprotektive Therapie) und eine Minderung der Beschwerden (symptomatische Therapie). Eine große Rolle spielt die Physiotherapie. Als bislang einziges Neuroprotektivum steht der Natrium-Kanalblocker Riluzol (Rilutek®) zur Verfügung. Auch Lithium kann nach einer Nutzen-Risiko-Analyse angewendet werden.
Das Geld, das die ALS Association nun einnimmt, gibt sie als Zuschüsse an rund 100 wissenschaftliche Projekte weiter. Zum Beispiel wird nach den Ursachen der Erkrankung gesucht, zu denen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren zählen. Eine klinische Studie mit Antisense-Nukleotiden ist ebenso darunter wie Stammzell-Projekte. Ein Teil der unerwarteten Spendensumme soll aber in die politische Lobbyarbeit sowie bei der Berliner ALS-Ambulanz auch direkt in die Pflege der Betroffenen fließen.
Wie albern man es also nun finden mag, dass sich alle Welt – und mit Vorliebe B-Promis – Eiswasser über den Kopf kippt, es ist für einen guten Zweck. »Wir finden nichts Verwerfliches daran, wenn man über Spaß an eine Sache herangeführt wird«, sagte Burkhard Wilke, Leiter des Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI), der Nachrichtenagentur dpa. Das DZI vergibt ein anerkanntes Spendensiegel an seriöse Hilfsorganisationen. Wilke sagte, zu groß dürfe der Druck bei einer solchen Schneeball-Aktion nicht sein: »Die Freiwilligkeit der Spende muss gewährleistet sein.« Kopierbar sei der Erfolg der Kampagne nicht, auch sollten Organisationen es nicht »auf Krampf« so versuchen. Lernen könne man vom Erfolg der Aktion, dass Spenden nicht nur über Mitleid oder negative Botschaften funktioniere. /
ALS Association: www.alsa.org/fight-als/ice-bucket-challenge.html
(unter »Donate« kann online gespendet werden)
ALS-Ambulanz der Berliner Charité: www.als-charite.de/HM/Home/tabid/189/Default.aspx
Umfangreiche Informationen zu Hintergrund und Behandlungsmöglichkeiten und Spendenadresse.
YouTube-Videos finden sich mit dem Kürzel #icebucketchallenge bei www.youtube.com