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Inklusion

Andere sind schon weiter als wir

30.07.2014  11:01 Uhr

Von Annette Mende und Stephanie Schersch, Berlin / Als Biathletin und im Langlauf holte die blinde Sportlerin Verena Bentele zwölf Mal paralympisches Gold. Seit Anfang des Jahres ist sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung und kämpft für eine inklusive Gesellschaft. Mit der PZ sprach die 32-Jährige über gemeinsames Lernen, Barrieren im Gesundheitswesen und die Frage, was Deutschland von anderen Staaten lernen kann.

PZ: Sie lieben Extremsportarten wie Bungee-Jumping und suchen gezielt den Nervenkitzel. Haben Sie diesen Kick in der Politik bereits gefunden?

 

Bentele: Nein, ich denke, das kann man aber auch nicht vergleichen. Der Adrenalinstoß, den man beim Sprung in die Tiefe erfährt, hat doch recht wenig mit dem Alltag in der Politik zu tun.

PZ: Dieser Alltag ist für Sie relatives Neuland. Denn im Gegensatz zu Ihren Vorgängern im Amt verfügen Sie bislang über nur wenige Erfahrungen in der Politik. Dafür haben Sie jahrelang als Spitzensportlerin Erfolge gefeiert. Inwieweit helfen Ihnen diese Erlebnisse dabei, im Berliner Politikbetrieb zurechtzukommen?

 

Bentele: Sport und Politik sind völlig unterschiedliche Welten. Wer jahrelang in Berlin in der Politik tätig ist, kennt alle wichtigen Akteure und verfügt über ein dichtes Netzwerk. Dieses Netzwerk baue ich mir gerade auf. Durch meine Erfahrungen aus dem Sport kann ich aber sagen, dass ich ein guter Teamspieler bin und die nötige Ausdauer mitbringe, um mich mit viel Energie in eine Sache reinzuhängen, die mir wichtig ist.

 

PZ: Im Grundgesetz steht: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Was sagen Sie aus eigener Erfahrung: Ist das in Deutschland Realität?

 

Bentele: Ich bin über diesen Passus im Grundgesetz sehr froh und auch darüber, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland seit 2009 ratifiziert ist. Das hat für Menschen mit Behinderung vieles einfacher gemacht, weil der Handlungsdruck für die politisch Verantwortlichen größer geworden ist. Trotzdem ist es immer noch so, dass ihnen viele Rechte erst dann gewährt werden, wenn sie darum kämpfen. Hier gibt es noch viel zu tun.

 

PZ: In Ihrer Sportlerkarriere sind Sie viel herumgekommen. Bemerken Sie Unterschiede im Umgang mit Behinderten zwischen Deutschland und anderen Ländern?

 

Bentele: In den USA gibt es eine große Offenheit gegenüber Menschen mit Behinderung. Auf der anderen Seite fehlt dort aber natürlich eine Absicherung über Sozialsysteme, wie wir sie in Deutschland haben. Vorbildlich im Umgang mit behinderten Menschen sind die skandinavischen Länder. Dort gibt es sehr viele inklusive Schulen, die Berührungsängste von Menschen mit und ohne Behinderung sind daher deutlich geringer. In diesem Punkt hat Deutschland großen Nachholbedarf

 

PZ: Das sehen Union und SPD offenbar ähnlich und haben sich daher die Leitidee einer inklusiven Gesellschaft in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wo sehen Sie die größten Baustellen auf dem Weg zu mehr Inklusion?

 

Bentele: Es gibt auf diesem Weg viel zu tun. Ein wichtiger Baustein ist der Bereich Schule und Bildung. Das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung muss selbstverständlicher werden. Hinzu kommt der Arbeitsmarkt: Unter Menschen mit Behinderung ist die Arbeitslosenquote um ein Mehrfaches höher als unter Menschen ohne Behinderung. In diesem Punkt sind wir von einer inklusiven Gesellschaft noch sehr weit entfernt.

 

PZ: Woran liegt das?

 

Bentele: Menschen mit Behinderung sind noch nicht in allen Bereichen ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Wenn etwa Gebäude oder Kulturveranstaltungen geplant werden, dann wird oft nicht von Anfang an da­ran gedacht, dass es auch für Menschen mit Behinderung einen problemlosen Zugang geben sollte. Aktuelles Beispiel ist die Fanmeile zur Fußball-Weltmeisterschaft in Berlin. Wer mit dem Rollstuhl an der Siegesfeier der National-Elf teilnehmen wollte, hatte das Nachsehen. Denn spezielle Rollstuhlplätze gab es nicht. Das ist sehr schade.

 

PZ: Was muss sich also ändern?

Bentele: Gemeinsames Lernen und damit Normalität von Anfang an ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schlüssel. Wenn wir irgendwann so weit sind, Inklusion als Bereicherung und nicht als Hürde zu betrachten, bringt uns das ein großes Stück voran.

 

PZ: Sie fordern Hilfeleistungen aus einer Hand, damit Menschen mit Behinderung eine zentrale Anlaufstelle haben. Wer könnte die Koordination der verschiedenen Angebote übernehmen?

 

Bentele: Darüber wird zurzeit noch diskutiert. Wer die Aufgabe am Ende übernimmt, spielt nicht die entscheidende Rolle, sondern wie Leistungen erbracht werden. Wichtig ist, dass Menschen mit Behinderung wissen, woher sie welche Unterstützung bekommen. Heute muss man oftmals von einem Träger zum nächsten rennen, weil die Zuständigkeiten nicht klar geregelt sind. Das kostet unnötig Energie und baut Hürden auf, wo keine sein müssten.

 

PZ: Sie haben einmal beklagt, einige Menschen würden Ihnen im Alltag bestimmte Dinge nicht zutrauen. Deshalb fordern Sie explizit, Menschen mit Behinderung mehr Verantwortung zu übertragen. Wie genau stellen Sie sich das vor?

 

Bentele: Wenn ich Menschen begegne, überlegen viele, wie sie sich verhalten würden, wenn sie nicht sehen könnten. Dabei vergessen sie, dass man Dinge völlig anders lernt, wenn man sozusagen ein geübter Mensch mit Behinderung ist. Wichtig ist daher, offen auf jeden Menschen zuzugehen und erst einmal herauszufinden, über welche Fähigkeiten er verfügt und wo unter Umständen Unterstützung nötig ist. Dann kann man gemeinsam überlegen, wie man diese Grenzen überwindet.

 

PZ: Wir haben jetzt viel über Teilhabe und Barrierefreiheit gesprochen. Wie sieht es damit im Gesundheitswesen aus?

 

Bentele: Es gibt immer noch viele Arztpraxen, die man als Rollstuhlfahrer nicht erreichen kann oder in denen das medizinische Personal nicht darauf eingestellt ist, dass Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen zu ihnen kommen. Bei Patienten mit Hörbehinderungen etwa gibt es häufig Kommunikationsprobleme. Dabei ist das Beratungsgespräch beim Arzt für den Therapieerfolg entscheidend. Schwierigkeiten gibt es vor allem in ländlichen Regionen, weil dort ohnehin nicht viele Praxen zur Auswahl stehen. Daher muss sich dringend etwas tun.

 

PZ: Denken Sie dabei an gesetzliche Vorgaben zur Barrierefreiheit?

 

Bentele: Ja genau. Bei Neuzulassungen oder Umbaumaßnahmen sollte meines Erachtens Barrierefreiheit ein entscheidendes Kriterium sein. Barrierefreiheit wird in Zukunft auch aufgrund des demografischen Wandels immer wichtiger werden. Natürlich ist ein barrierefreier Zugang etwa für Praxen in Altbauten häufig schwierig zu realisieren. Deshalb sollte es eine staatliche Förderung geben, wenn jemand bereit ist, seine Räumlichkeiten entsprechend umzugestalten.

 

PZ: Wie zufrieden sind Sie mit der Barrierefreiheit in Apotheken?

 

Bentele: Viele Apotheken, die ich kenne, sind beispielsweise für Rollstuhlfahrer problemlos zu erreichen. Barrierefreiheit hat allerdings nicht nur mit räumlichen Hürden zu tun. Sehbehinderte Menschen stehen häufig vor dem Problem, dass auf der Arzneimittelpackung lediglich der Name des Präparats und unter Umständen die Dosierung in Blindenschrift stehen. Auf die Frage, wie nutze ich das Arzneimittel, geben diese Informationen allerdings keine Antworten. Daher ist für mich die Beratung in der Apotheke absolut entscheidend. Apotheker müssen auf jeden Fall flexibel sein und auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Patienten eingehen können.

 

PZ: Werfen wir einen Blick nach vorne: Was möchten Sie am Ende ihrer Amtszeit für Menschen mit Behinderung in Deutschland erreicht haben?

 

Bentele: Wenn wir dem Ziel ein Stück näher gekommen sind, für Menschen mit Behinderung die Teilhabe in allen Lebensbereichen zu verbessern, wenn sie selbst bestimmen können, wie sie wohnen und wo sie arbeiten wollen, dann kann ich zufrieden sein. /

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