Glatirameracetat ist nachhaltig wirksam |
01.08.2006 11:32 Uhr |
<typohead type="3">Glatirameracetat ist nachhaltig wirksam
von Claudia Borchard-Tuch
Bei Multipler Sklerose ist der MS-spezifische Immunmodulator Glatirameracetat auch bei mehr als zehnjähriger Behandlung effektiv. Vorteilhaft ist, dass sich unter der Therapie keine Antikörper bilden, was etwa bei Interferon-beta die Wirksamkeit schwächt.
»Neue wissenschaftliche Erkenntnisse führen zu einer veränderten Sichtweise der Multiplen Sklerose«, sagte Dr. Tjalf Ziemssen vom Universitätsklinikum Dresden auf einer Veranstaltung von Sanofi-Aventis. So wiesen inzwischen verschiedene Studien darauf hin, dass der irreversible Untergang der Axone unabhängig von der Zerstörung der Markscheiden sein kann und bereits zu Beginn der Erkrankung auftritt. »Dies deutet darauf hin, dass es noch etwas anderes als die Autoimmunreaktion gegen die Markscheiden gibt, das die Krankheit vorantreibt«, so der Mediziner. Diese Erkenntnisse haben auch Einfluss auf die MS-Therapie, die bisher vor allem auf die Prävention von Entzündung und Entmarkung abzielt.
Glatirameracetat schützt Nervenfaser
Der in Deutschland seit einigen Jahren eingesetzte immunmodulatorische Wirkstoff Glatirameracetat (Copaxone®) bietet über die Entzündungshemmung hinausgehende Eigenschaften, die den progredienten Axonverlust aufhalten könnten, so Ziemssen. Glatirameracetat besteht aus einem polymerisierten Gemisch der vier wichtigsten Aminosäuren des basischen Myelinproteins, Glutamin, Lysin, Alanin und Tyrosin.
Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Nervensystems, an der in Deutschland etwa 122.000 Menschen erkrankt sind. Als Ursache wird eine zerstörerische Abwehrreaktion des Körpers angesehen: Das Immunsystem hält bestimmte Strukturen im Gehirn für körperfremd und attackiert diese. Hierbei dringen bestimmte Zellen des Immunsystems, die T-Zellen, in das Gehirn oder Rückenmark ein und zerstören dort die Myelinscheiden, die die Fortsätze der Nervenzellen umhüllen. Auch die Nervenzellfortsätze, die Axone, gehen zugrunde, was nach neuen Erkenntnissen auch unabhängig von der Myelindegeneration auftreten kann.
Auf der Grundlage neuer Erkenntnisse aus tierexperimentellen, In-vitro- und MRT-Studien gilt folgender Wirkungsmechanismus für Glatirameracetat als wahrscheinlich: Die tägliche Injektion aktiviert neuroprotektiv wirkende Immunzellen, welche in das Gehirn einwandern. Dort sezernieren sie antientzündliche Zytokine und Faktoren, die die Nervenzellfortsätze vor einer Zerstörung bewahren, wie den neurotrophen Faktor BDNF (Brain-derived Neurotrophic Factor). Magnetresonanztomografische Befunde haben gezeigt, dass sich unter einer Therapie mit Glatirameracetat neu aufgetretene Läsionen signifikant weniger zu so genannten Black Holes umformten. Diese »schwarzen Löcher« signalisieren einen irreversiblen Untergang von Nervenzellen. Somit stellt Glatirameracetat einen wichtigen Bestandteil der immunmodulatorischen MS-Therapie dar, zusammen mit den erhältlichen drei Formen von Interferon-beta (1a, 1b subkutan oder 1a intramuskulär).
Im Gegensatz zu Glatirameracetat bringt eine Therapie mit Interferon allerdings ein Problem mit sich: die Bildung neutralisierender Antikörper (NAB), berichtete Professor Dr. Bernd C. Kieseier, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Diese können die Bioverfügbarkeit von Interferon-beta beeinträchtigen, da sie die Bindung des Interferons an die Rezeptoren verhindern. »Studien haben gezeigt, dass hohe NAB-Titer die therapeutische Wirksamkeit von beta-Interferonen beeinträchtigen«, erklärte Kieseier. »Schubrate und MRT-Aktivität nehmen zu.«
Auf Grund der Bedeutung der Antikörper für den Therapieerfolg veröffentlichte eine Arbeitsgruppe der European Federation of Neurological Societies (EFNS) Ende 2005 eine Leitlinie. Demzufolge sollen nach 12 und 24 Monaten Interferon-Therapie die NAB-Spiegel bestimmt und bei persistierend hohen Titern die Therapie nicht fortgeführt werden. Da ein Wechsel zwischen den einzelnen Interferonen auf Grund von Kreuzreaktionen nicht erfolgversprechend ist, bietet Glatirameracetet hier eine Therapiealternative, da es zu keinem Wirkverlust durch Antikörper kommt.
Auch unter Dauerbehandlung bleibt die therapeutische Wirksamkeit von Glatirameracetat bestehen. Dies belegen die Ergebnisse einer Studie, die Privatdozent Dr. Jürgen Koehler, Universitätsklinik Mainz, vorstellte. Im Rahmen der prospektiven Beobachtungsstudie über zwölf Jahre zeigte sich bei Patienten ein deutlicher Rückgang der Entzündungsaktivität von 1,2 Schüben pro Jahr als Ausgangswert auf weniger als 0,2 Schübe im zwölften Therapiejahr. Bei 62 Prozent der Patienten blieb die Erkrankung stabil oder war sogar verbessert. »Für Glatirameracetat findet sich eine äußerst fundierte Datenlage in der Langzeitanwendung«, stellte Koehler fest.
Der Erfolg einer MS-Therapie beruht jedoch nicht ausschließlich auf einer effektiven medikamentösen Behandlung, sondern auch auf der umfassenden Information der Betroffenen, betonte Koehler. So bietet die Internetsite »MS College« MS-Patienten, Angehörigen und Ärzten wichtige Informationen auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand (www.mscollege.de).