Reines Heroin bald auf Rezept? |
25.07.2006 10:41 Uhr |
<typohead type="3">Reines Heroin bald auf Rezept?
von Brigitte M. Gensthaler, München
Die Gabe von Heroin ist bei schwerst Opiatabhängigen effektiver als die Substitution mit Methadon. Die Abhängigen bleiben länger in der Therapie, ihr Gesundheitszustand wird besser und der illegale Beigebrauch geht stärker zurück. Dies sind die wichtigsten Ergebnisse der deutschen Heroinstudie.
Wie viele Menschen in Deutschland von Opiaten abhängig sind, weiß niemand genau. Die Hochrechnungen variieren zwischen 150.000 und 280.000, etwa 1320 Todesfälle gehen jährlich auf das Konto harter Drogen. »65.000 bis 70.000 Abhängige befinden sich heute in einer opiatgestützten Substitutionstherapie«, schätzt Dr. Uwe Verthein vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg. Für manche ist die Therapie wie ein Notnagel: Bei jedem Fünften bis Zehnten dient sie eher dem Lebenserhalt als einer Besserung.
Schwerst Heroinabhängige, denen eine Methadonbehandlung nicht geholfen hat, die rückfällig oder die vom Hilfesystem gar nicht erreicht wurden, könnten von einer ärztlich überwachten Therapie mit hochreinem Heroin profitieren. Dies belegen die Ergebnisse der deutschen Heroinstudie, die Studienleiter und ZIS-Geschäftsführer Privatdozent Dr. Christian Haasen gemeinsam mit Verthein beim Interdisziplinären Kongress für Suchtmedizin Mitte Juli in München vorstellte.
Die multizentrische randomisierte und kontrollierte Vergleichsstudie ist Kernstück eines Modellprojekts, das vom Bundesministerium für Gesundheit, vier Bundesländern und sieben Städten gemeinsam getragen und von der Bundesärztekammer begleitet wird (www.heroinstudie.de). Die Studie startete im Frühjahr 2002 und schloss in der ersten Phase 1032 Heroinabhängige, ein Fünftel davon Frauen, ein. Ein Jahr lang erhielten sie entweder Methadon zum Schlucken oder reines Heroin zum Spritzen und wurden nach zwei verschiedenen Konzepten intensiv psychosozial betreut. Im zweiten Jahr konnten die Teilnehmer der Heroingruppe ihr Mittel beibehalten und Patienten der Methadongruppe auf Heroin umsteigen.
Heroin ist effektiver
Die Ergebnisse nach einem Jahr fielen deutlich zu Gunsten des Heroins aus. Zwei Drittel der Patienten der Heroingruppe, aber nur 39 Prozent der Methadongruppe beendeten diese Studienphase regulär. Die schlechte Haltequote unter Methadon kommt allerdings vorwiegend dadurch zustande, dass ein Drittel der dieser Gruppe zugelosten Patienten die Behandlung gar nicht erst antrat. Interessant ist, dass die durchschnittliche Tagesdosis von Heroin pro Patient bei 442 mg lag und nach individueller Einstellung im Verlauf der Behandlung nicht gesteigert werden musste.
Bei 80 Prozent der Teilnehmer unter Heroin besserte sich der Gesundheitszustand deutlich, in der Methadongruppe bei 74 Prozent. Noch deutlicher war der Benefit beim zweiten vorab definierten Zielkriterium: Der illegale Drogenkonsum ging bei 69 Prozent der Patienten der Heroingruppe, aber nur bei 55 Prozent aus der Methadongruppe zurück. Die Behandlung galt laut Studienprotokoll nur als erfolgreich, wenn ein Teilnehmer beide Ziele erreichte. Auch dann war Heroin signifikant überlegen, denn dies traf auf 57 versus 45 Prozent der Patienten zu.
Nach vorläufigen Ergebnissen nahm die Prävalenz krimineller Delikte in beiden Gruppen ab, aber signifikant stärker, wenn die Patienten reines Heroin spritzten. Dadurch konnten sie sich auch besser von der Drogenszene lösen. Die deutschen Ergebnisse stimmen in der Tendenz mit denen aus der Schweiz und den Niederlanden überein, berichten die Studienautoren.
Gute Haltequote
In die zweite ebenfalls einjährige Studienphase, in der vor allem Daten zur Sicherheit und langfristigen Wirksamkeit erhoben wurden, traten 434 Patienten ein. Diese Daten sowie die Ergebnisse mehrerer begleitender Spezialstudien sind noch nicht voll publiziert, wurden aber in München präsentiert. Demnach besserten sich die Ergebnisse weiter oder konnten gehalten werden. Die Suchtkranken, die von Methadon auf Heroin gewechselt hatten, holten jetzt auf, berichtete Verthein vor Journalisten. Innerhalb von zwei Jahren schieden 44 Prozent der Teilnehmer aus der Studie aus, die Hälfte davon als »positive Abbrecher«, das heißt, dass sie in andere Substitutions- und sogar in Abstinenztherapien wechselten.
Doch auch die kontrollierte Injektion von hochreinem Heroin birgt Gefahren. Hier traten schwere Nebenwirkungen häufiger auf als bei der Substitution mit Methadon. Dies gehe teilweise auf das Konto der intravenösen Applikation, erläuterte der Arzt. Am häufigsten wurden Atemdepression, epileptische Anfälle und kardiovaskuläre Komplikationen beschrieben, ferner allergische Hautreaktionen wie Quaddelbildung und Juckreiz. Die Akuteffekte waren gut beherrschbar, da jeder Patient nach der Injektion laut Studienprotokoll noch 30 Minuten in der Ambulanz bleiben musste.
Zwölf Patienten starben in der ersten Studienphase, aber kein Todesfall hing kausal mit der Medikation zusammen, betonen die Studienautoren. Vielmehr waren viele Patienten schon bei Eintritt in die Studie schwer krank; zum Beispiel waren neun von zehn mit Hepatitis- oder HI-Viren infiziert, drei Viertel hatten Hauterkrankungen und die Hälfte parasitäre Erkrankungen. Die Mortalitätsrate von 1,2 Prozent liege unter den bei Schwerstabhängigen geschätzten 3 bis 4 Prozent.
Zitterpartie für Abhängige
»Medizinisch-wissenschaftlich sind die Daten überzeugend: Die Heroin-gestützte Behandlung ist eine Alternative für Schwerstabhängige«, sagte Verthein. Die Zulassung von Heroin als Arzneimittel bedeute eine »Entmystifizierung« der Substanz. Wer der Hersteller ist, wollte er jedoch nicht verraten.
In der deutschen Studie wurde Heroin intravenös gespritzt und für diese Darreichungsform ist die Zulassung beim BfArM bereits beantragt. In den Niederlanden gibt es Versuche mit inhalierbarem Heroin, das laut Verthein ebenso wirksam war wie das gespritzte Mittel. Hier sei die Zulassung für beide Arzneiformen beantragt. Eine schweizerische Studie prüfte den Effekt von Heroin-Tabletten; damit sei künftig sogar eine Take-home-Verordnung denkbar.
Für die Abhängigen in Deutschland beginnt jetzt eine Zitterpartie: Das Studienprotokoll läuft Ende des Jahres aus. Wenn es bis dahin keine politisch-juristische Entscheidung und keine Zulassung gibt, ist Heroin als Medikament nicht mehr verkehrsfähig. Dann müssen sie von dem Stoff entzogen und/oder auf andere Medikamente umgestellt werden.
Diacetylmorphin wurde 1874 gezielt durch Acetylierung von Morphin synthetisiert und begann seine Karriere 1898 als Arzneimittel (Heroin). Die Ärzte waren begeistert: Das neue Mittel aktivierte den Patienten, betäubte jegliches Angstgefühl, dämpfte rasch das Verlangen Morphinabhängiger nach ihrer Droge und unterdrückte selbst in geringsten Dosen Hustenreiz sogar bei der damaligen Volksseuche Tuberkulose. Heroin wurde zur Substitution Morphinabhängiger, bei Husten und Brustschmerz, in der Kinderheilkunde bei Keuchhusten und in der Gynäkologie als Analgetikum eingesetzt. Erst 1912 wurde es rezeptpflichtig und später, als man seine hohe Suchtpotenz erkannte, vom Markt genommen. Eine unrühmliche Renaissance erfuhr die Droge im Vietnamkrieg; die Soldaten bekamen Heroin, um ihre Angst zu unterdrücken. Seit Mitte der 1960er-Jahre hat Deutschland mit Heroin als illegale Droge zu kämpfen.
Diacetylmorphin ist deutlich lipophiler als Morphin, flutet daher sehr schnell im ZNS an und löst eine intensive Euphorie aus. Durch Esterasen wird es rasch metabolisiert, wobei zunächst die Acetylgruppe in Position 3 abgespalten wird (6-Monoacetyl-Morphin). In der Leber wird dann die zweite Acetylgruppe abgespalten; es entsteht Morphin. Nach Glucuronidierung in der Leber resultiert das unwirksame Morphin-3-Glucuronid und das länger und stärker als Morphin wirksame 6-Glucuronid. Die Elimination erfolgt vorwiegend renal. Typische Zeichen einer Intoxikation sind Bewusstseinstrübung bis zum Koma, Atemdepression und Zyanose sowie Miosis. Tödlich enden kann ferner ein toxisches Lungenödem.