Vernachlässigte Folgen bei Kindern |
16.06.2009 15:13 Uhr |
<typohead type="3">Adipositas: Vernachlässigte Folgen bei Kindern
Die Zahl der übergewichtigen und adipösen Kinder ist in Deutschland in den vergangenen Jahren drastisch angestiegen. Die Folgen des Übergewichts machen sich in Form von Diabetes, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen bemerkbar. Diese werden aber kaum diagnostiziert.
In Deutschland sind 15 Prozent der Kinder übergewichtig, 6 Prozent sogar adipös. Rund eine Million Kinder in Deutschland haben mit zu hohem Gewicht zu kämpfen, sagte der Endokrinologe Privatdozent Dr. Thomas Reinehr von der Vestischen Kinder- und Jugendklinik an der Universität Witten-Herdecke. Die meisten von ihnen stammen aus Familien mit niedrigem Sozialstatus oder Migrationshintergrund. Neben falschem Essverhalten ist Bewegungsmangel eine wichtige Ursache für Übergewicht. »Kinder unter drei Jahren verbringen 79 Prozent ihrer wachen Zeit mit sitzenden Tätigkeiten«, sagte Reinehr. Eine dieser Tätigkeiten ist das Fernsehen. »Ein hoher Fernsehkonsum korreliert besonders stark mit Adipositas.« Bedenklich sei daher die Tatsache, dass die Hälfte aller Jugendlichen und 25 Prozent aller Kinder von fünf bis sechs Jahren einen eignen Fernseher besitzen.
Ein ganz entscheidender Faktor ist auch die Ernährung. Dabei kommt es weniger darauf an, wie viel man verzehrt, sondern was man verzehrt. Ein hoher Konsum von Fast Food und süßen Getränken wie Limonade oder Fruchtsäfte erhöht das Adipositasrisiko enorm, sagte Reinehr. Durch einfache Maßnahmen wie, Getränkeautomaten mit kalorienhaltigen Getränken an Schulen zu verbieten und Wasser anzubieten, ließe sich Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen vorbeugen.
Neben Ernährung und körperlicher Aktivität haben auch die genetische Ausstattung und psychosoziale Aspekte wie seelische Belastungen einen Einfluss. Von den adipösen Kindern, die Reinehr in seiner Klinik betreut, stammen etwa drei Viertel aus Trennungsfamilien. »Da wird viel Frust mit Essen kompensiert«, sagte der Mediziner. Auf Grunderkrankungen geht Übergewicht in den seltensten Fällen zurück. »Das sind Raritäten.« Zudem seien hormonelle Störungen und Syndrome, die Übergewicht hervorrufen, immer mit Wachstumsstörungen verbunden. Bei normalem Wachstum lassen sich solche Erkrankungen als Ursache des Übergewichts ausschließen. Auch eine latente Hypothyreose wird zwar häufig wegen der erhöhten TSH-Werte diagnostiziert und behandelt, ist aber selten vorhanden. »Die Veränderung der TSH-Werte ist die Folge und nicht die Ursache des Übergewichts«, sagte Reinehr. Dies sei aber bei vielen Medizinern noch nicht angekommen.
Die Folgen des Übergewichts treten schon im Kindesalter auf. Rund ein Drittel der adipösen Kinder leidet unter Bluthochdruck, ein Viertel hat eine Fettstoffwechselstörung. Etwa 1 Prozent der Kinder hat bereits einen Typ-2-Diabetes entwickelt. Daher sollten bei adipösen Kindern und Jugendlichen Faktoren wie Nüchternblutzucker, Blutdruck und Lipide bestimmt werden, um Folgeerkrankungen frühzeitig zu erkennen und behandeln zu können. Denn in frühen Stadien sind Veränderungen an den Gefäßen noch reversibel. Diese Diagnostik werde aber selten durchgeführt, sagte Reinehr. »Wir schließen lieber Grunderkrankungen aus, als nach den Folgen zu schauen.« Ein jährliches Screening hält er für alle adipösen Jungendlichen für sinnvoll.
Die Therapie der Wahl gegen Folgeerkrankungen sei die Gewichtsreduktion. Die falle aber den Betroffenen sehr schwer. »Um eine Dose Cola wieder abzuarbeiten, muss man 55 Minuten Rad fahren«, erklärte Reinehr. Erfolgreich sei eine langfristige Kombination aus Bewegungs-, Ernährungs- und Verhaltenstherapie. Über ein einfaches Ampelsystem zum Beispiel lernen Kinder in seiner Klinik den Nährwert und Kaloriengehalt von Lebensmitteln. Zum Programm gehören auch das eigene Zubereiten von Essen, Sportkurse und eine psychologische Betreuung. Nach einem Jahr haben 79 Prozent der Kinder deutlich an Gewicht verloren, berichtete Reinehr. Vor einer Teilnahme am Schulungsprogramm verlangt die Klinik allerdings einen Motivationsnachweis. Das Kind muss einen achtwöchigen Sportkurs durchhalten, bevor es aufgenommen wird. Dies gelingt meist nur besonders motivierten Kindern aus der Mittelschicht, so die Erfahrung des Mediziners. Ein Großteil der adipösen Kinder bestehe diesen Motivationstest nicht.
Bringt die Lebensstilveränderung keinen Erfolg, können auch Medikamente zur Gewichtsreduktion eingesetzt werden. Diese zeigten aber nur moderate Effekte, gab der Mediziner zu bedenken. Orlistat sei von den Nebenwirkungen her geeigneter als Sibutramin. Die Folgeerkrankungen müssten dagegen in der Regel medikamentös behandelt werden. Metformin sei in der Therapie von Typ-2-Diabetes das Mittel der Wahl. Mit ACE-Hemmern ließe sich die Hypertonie und mit Statinen die Fettstoffwechselstörungen behandeln.