Neue Erklärung für Nebenwirkung |
04.06.2012 15:47 Uhr |
Von Maria Pues / Potenzielle Arzneistoffe bereits in der frühesten Entwicklungsphase auf mögliche Nebenwirkungen zu testen – diesem Ziel sind Wissenschaftler einen Schritt näher gekommen. Sie haben einen neuen Erklärungsansatz, auf welche Weise es unter dem HIV-Mittel Abacavir zu Hypersensitivitätsreaktionen kommt.
Abacavir kann eine Autoimmunreaktion provozieren. Zwei US-amerikanische Forschergruppen sind offenbar unabhängig voneinander zu diesem Ergebnis gelangt. Sie erklären mit ihren Untersuchungen die Wechselbeziehung zwischen dem nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitor Abacavir und dem Immunsystem, die bei 5 bis 8 Prozent der Patienten zu teils schweren bis lebensbedrohlichen Überempfindlichkeitsreaktionen führen kann.
Dass die Genvariante HLA-B*57:01 dabei eine zentrale Rolle spielt, ist schon seit Längerem bekannt. Alle Patienten, die in Studien eine immunologisch bestätigte Hypersensitivitätsreaktion gezeigt hatten, waren Träger dieser Genvariante. Warnsignale sind Fieber, Hautausschlag, Magen-Darm-Beschwerden sowie Müdigkeit bis zu sechs Wochen nach Therapiebeginn. Die Überempfindlichkeit kann insbesondere nach einer Wiederaufnahme der Behandlung mit verstärkten Symptomen – bis hin zu letalen Nebenwirkungen – auftreten. Patienten mit erhöhtem Risiko lassen sich mit einem Gentest identifizieren, eine Abacavir-Therapie ist bei ihnen kontraindiziert.
Von »Freund« zum »Feind«
Abacavir interagiert mit bestimmten Varianten des humanen Proteinkomplexes Human Leukocyte Antigens (HLA), insbesondere mit HLA-B*57:01, das zur Erkennung von Proteinen als fremd oder körpereigen beiträgt. Nach In-vitro-Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Dr. Michael Norcross an der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA (doi: 10.1097/QAD.0b013e328355fe8f) veranlasst Abacavir HLA-B*57:01 dazu, dem Immunsystem körpereigene Eiweiße als fremde zu präsentieren. Dies setzt teilweise heftige T-Zell-vermittelte Abwehrreaktionen in Gang – unter anderem mit den oben genannten Symptomen bis hin zu Multiorganreaktionen. Auch bei anderen Wirkstoffen hat man vergleichbare Nebenwirkungen beobachtet: Schwere Hautreaktionen unter Beteiligung von Klasse-I-HLA kennen Kliniker von Carbamazepin (HLA-B*15:02, B*15:11, A*31:01) und Allopurinol (HLA-B58:01); Arzneimittel-induziertes Leberversagen kann unter Flucloxacillin bei Patienten mit der Genvariante HLA-B*57:01 auftreten.
Auch Wissenschaftler um Dr. Bjoern Peters vom kalifornischen La-Jolla-Institute for Allergy und Immunology kommen zu diesem Schluss (doi: 10.1073/pnas.1207934109/-/DCSupplement). Einig sind sich beide Arbeitsgruppen in der Bedeutung ihrer Ergebnisse: Kennt man die molekularen Beziehungen zwischen Arzneistoffen und ihrem jeweiligen Reaktionspartner wie bestimmten HLA-Varianten, so kann man bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Arzneistoffentwicklung infrage kommende Kandidaten daraufhin prüfen, ob sie vergleichbare Interaktionen auslösen – lange bevor Tierversuche oder klinische Studien am Menschen anstehen. Das muss nicht automatisch dazu führen, dass eine neue Entwicklung gar nicht erst zur Marktreife gebracht wird. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar, wie Dr. Mitchell Kronenberg, Präsident des La-Jolla-Instituts anmerkte: Dass potenzielle Arzneistoffe, die wegen Nebenwirkungen vornehmlich bei einer definierten Patientengruppe gar nicht weiterentwickelt würden, doch eine Chance bekommen könnten.
Frühere Erklärungsansätze
Verschiede Erklärungsansätze wurden bereits diskutiert und wieder verworfen. Dazu gehört die Hypothese, manche Arzneistoffe verhielten sich als Haptene beziehungsweise Prohaptene, die kovalent oder nicht kovalent an körpereigene Proteine, Peptide oder HLA binden; die großen Moleküle führen dann zu einer T-Zell-Aktivierung. Ein weiteres Modell ging von einer direkten Interaktion zwischen Arzneistoffmolekülen und Rezeptoren auf Immunzellen aus, die zu einer Aktivierung von T-Zellen führt. Andere vermuteten den Effekt über die Aktivierung von Kofaktoren, die Gewebeschäden und Entzündungen förderten. /