Publikation mit Zwischenstopp |
16.05.2018 11:05 Uhr |
Von Ulrike Viegener / Nachdem die Veröffentlichung zunächst per Gerichtsbeschluss gestoppt worden war, ist die neue S3-Leitlinie »Neuroborreliose« nun erschienen. Ausgewählte Antibiotika sollen maximal über 21 Tage angewendet werden, eine Langzeitantibiose sei nicht erforderlich, betonen die Autoren.
Wenn medizinische Leitlinien verfasst werden, ist es inzwischen Usus, Patientenvertreter einzubinden. Denn der Anspruch, evidenzbasierte Empfehlungen auszusprechen, ist das Eine. Doch auch die Erfahrungen und Anliegen der Patienten sollten nicht ungehört bleiben. Ein Gerichtssaal kommt in diesem Konzept nicht vor, doch genau dorthin hat die Auseinandersetzung zwischen Ärzten und Patienten im Fall der neuen S3-Leitlinie »Neuroborreliose« geführt.
Vor dem Landgericht Berlin hatte die Patientenorganisation Borreliose und FSME Bund Deutschland gemeinsam mit der Deutschen Borreliose Gesellschaft (Vereinigung von Ärzten und Wissenschaftlern) eine einstweilige Verfügung erwirkt, die es der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) als federführender Fachgesellschaft untersagte, die Leitlinie zu veröffentlichen.
Die Kritiker waren mit einigen Aussagen der Leitlinie nicht einverstanden und hatten gemeinsame Dissenshinweise formuliert, welche die DGN im Leitlinienreport und nicht in der Leitlinie selbst zu veröffentlichen gedachte. Dagegen jedoch verwehrten sich die beiden Verbände und begründeten dies mit der mangelnden Beachtung des Leitlinienreports. Inhaltlich richtet sich ihre Kritik in erster Linie gegen die angeblich zu eng gefassten Empfehlungen im Hinblick auf Neuroborreliose-Spätformen.
Urteil zugunsten der DGN
Der Publikationsstopp war allerdings nur von kurzer Dauer. Mitte März wurde vor dem Landgericht Berlin erneut verhandelt und diesmal ging die Sache zugunsten der DGN und ihrer Mitstreiter aus. Ingesamt waren 20 medizinische Fachgesellschaften sowie das Robert-Koch-Institut an der Ausarbeitung der S3-Leitlinie beteiligt. Laut Informationen des »Deutschen Ärzteblatts« wollen aber die Kritiker der Leitlinie nach Aufhebung der einstweiligen Verfügung in Berufung gehen.
Rechtzeitig zur Zeckensaison ist die Leitlinie jetzt aber erst einmal – ohne die Dissenshinweise – erschienen. Die Lyme-Borreliose ist die am häufigsten durch Zecken übertragene Erkrankung in Europa, wobei allerdings im Fall einer Infektion mit Borrelien häufig gar keine Krankheitszeichen auftreten. Die gramnegativen Bakterien aus der Gruppe der Spirochäten befallen Haut, Gelenke und/oder Nerven.
Eine prophylaktische Antibiotika-Einnahme nach einem Zeckenstich wird nicht empfohlen. Zwar dokumentiert eine Studie, dass sich mit der einmaligen Gabe von 200 mg Doxycyclin das Risiko einer Borrelien-Infektion effektiv reduzieren lässt (»New England Journal of Medicine« 2001, DOI: 10.1056/NEJM 200107123450201). Die Leitlinienautoren halten diese Maßnahme aber angesichts des geringen Erkrankungsrisikos nicht für empfehlenswert. Dasselbe gilt für die lokale Anwendung von Azithromycin, das im Tierversuch eine gute prophylaktische Wirkung gezeigt hat. Diese habe sich in einer placebokontrollierten Studie am Menschen aber nicht bestätigt (»The Lancet« 2017, DOI: 10.1016/S1473-3099(16)30529-1).
Typische Frühmanifestation einer Infektion mit Borrelien, die allerdings nur bei maximal 50 Prozent aller Patienten mit Neuroborreliose auftritt, ist die Wanderröte (Erythema migrans): Tage bis Wochen nach dem Zeckenstich kommt es um den Stich herum zu einer kreisförmigen Rötung, deren Durchmesser sich langsam vergrößert, während das Zentrum verblasst. Bei einer Wanderröte soll der Leitlinie zufolge sofort – ohne auf die Ergebnisse der Blutuntersuchung zu warten – eine Antibiotikabehandlung eingeleitet werden. Antibiotika der ersten Wahl sind Doxycyclin (bei Kindern erst ab dem 9. Lebensjahr) oder Amoxicillin.
Bei einer akuten Neuroborreliose kommt es zu Entzündungsreaktionen an den Nervenwurzeln und es treten in deren Einzugsbereich brennende oder stechende Schmerzen auf. Sie sind nachts besonders ausgeprägt und sprechen kaum auf Analgetika an. Auch psychiatrische Auffälligkeiten können Zeichen einer Borreliose sein. Im Kindesalter äußert sich die akute Neuroborreliose häufig in einer Gesichtsnervenlähmung oder einer Hirnhautentzündung.
Die S3-Leitlinie »Neuroborreliose« enthält folgende Verhaltensempfehlungen für den Fall eines Zeckenstichs:
Diagnose mit Tests sichern
Besteht der begründete klinische Verdacht auf eine Neuroborreliose, sind validierte Blut- und Liquortests indiziert. Durch Nachweis entzündlicher Liquorveränderungen in Verbindung mit einer borrelienspezifischen IgG- und IgM-Antikörpersynthese lässt sich die Diagnose in der Regel sichern. Bei unspezifischen Symptomen wie chronischer Müdigkeit und Kopfschmerzen im Nachgang eines Zeckenstichs wird dagegen keine Indikation für eine Borreliose-Testung gesehen.
Bei gesicherter Diagnose einer Neuroborreliose soll eine Antibiose mit Doxycyclin, Penicillin G, Ceftriaxon oder Cefotaxim erfolgen, die alle eine gleich gute Wirksamkeit gegen Borrelien besitzen. Für den Einsatz von Antibiotikakombinationen sowie anderer vorgeschlagener Medikamente (Chloroquin, Carbapeneme, Metronidazol) fehle derzeit die Evidenz. Die genannten Antibiotika sollen bei früher Borreliose über 14 Tage und bei später Borreliose über 14 bis 21 Tage verabreicht werden. Der Erfolg der Antibiotikatherapie soll anhand der klinischen Symptomatik beurteilt werden.
Die Früherkennung der Lyme-Borreliose beziehungsweise Neuroborreliose mit anschließender leitliniengerechter Antibiotikatherapie ist von entscheidender Bedeutung, um die Infektion zur Ausheilung zu bringen und Spätmanifestationen zu verhindern. Bei adäquatem Vorgehen ist die Prognose laut Aussage der Leitlinienautoren gut. Ausdrücklich wird betont, dass es keine wissenschaftliche Grundlage dafür gebe, von den genannten Therapieempfehlungen abzuweichen. Eine länger dauernde Behandlung mit Antibiotika bringe keinen Mehrwert, setze aber die Patienten einem unnötigen Risiko schwerer Nebenwirkungen aus.
Die Inzidenz später Borreliosen – synonym wird von chronischen Borreliosen gesprochen – wird in der Leitlinie auf unter 2 Prozent veranschlagt. In diesen Fällen entwickelt sich schleichend über Monate bis Jahre hinweg eine neurologische Symptomatik, wobei eine Enzephalomyelitis (entzündliche Erkrankung des Gehirns und Rückenmarks) mit spastisch-ataktischen Gangstörungen und Blasenstörungen im Vordergrund steht. Dies gilt als gesicherte Spätmanifestation einer Neuroborreliose.
Darüber hinaus gibt es ein breites Spektrum an persistierenden Beschwerden, bei denen ein kausaler Zusammenhang mit Borrelien vermutet wird, ohne dass ein entzündlich-infektiöser Prozess nach allgemein akzeptierten Kriterien labordiagnostisch nachgewiesen werden kann, wie es in der Leitlinie heißt. Verschiedene Begriffe wie »Post-Treatment Lyme Disease Syndrome« (PTLDS) sind im Umlauf, mit denen angeblich chronische Verläufe beziehungsweise latente Langzeitinfektionen bezeichnet werden. Charakteristisch für diese Krankheitsbilder sind unspezifische Symptome wie chronische Müdigkeit und Konzentrationsstörungen. Auch Studien zufolge gehen Neuroborelliosen nicht selten mit persistierenden unspezifischen beziehungsweise untypischen Symptomen einher.
Unter Berufung auf einen systematischen Review bewerten die Autoren der Leitlinie diese Fälle jedoch mehrheitlich als Artefakte infolge unscharfer Falldefinition. Sehr häufig lägen in diesen vermeintlichen Fällen später Borreliosen schlichtweg Fehldiagnosen vor, so ihr Standpunkt. Die wiederholte beziehungsweise langfristige Gabe von Antibiotika könne deshalb nicht zielführend sein. Andererseits schließen die Autoren nicht kategorisch aus, dass es Langzeitverläufe mit unspezifischer beziehungsweise untypischer Symptomatik gibt. Sie seien nur sehr viel seltener, als es häufig suggeriert werde.
Diagnostik statt Antibiotika
Diese Einschätzung war vor allem Gegenstand des Widerspruchs von Borreliose-Bund und Borreliose-Gesellschaft. Sie fürchten einen therapeutischen Nihilismus im Umgang mit den betroffenen Patienten. Die Leitlinienautoren halten dagegen, dass eine Ausweitung der Antibiotikatherapie wissenschaftlich auch dann nicht zu begründen sei, falls tatsächlich Borrelien für unspezifische beziehungsweise untypische Langzeitbeschwerden im Gefolge eines Zeckenstiches verantwortlich sein sollten. Sie sprechen sich dafür aus, in solchen Fällen erst einmal eine sehr sorgfältige Differenzialdiagnostik vorzunehmen. Ein negativer Antikörpernachweis schließe beim immungesunden Patienten eine Lyme-Borreliose weitestgehend aus. /