Virtuelle Freunde, reale Einsamkeit |
21.04.2015 14:54 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Der Umgang mit Computer und Smartphone ist für Jugendliche heute eine Selbstverständlichkeit. Einige verbringen jedoch so viel Zeit in der virtuellen Welt, dass sie in der realen Probleme bekommen. Mädchen und Jungen sind gleich häufig betroffen.
Der junge Mann ist der Prototyp des stoffeligen Computer-Nerds. Außer für Online-Rollenspiele interessiert er sich für gar nichts. Wochentags ist er neun Stunden, samstags und sonntags je zwölf Stunden online. Obwohl erst 18 Jahre alt, ist er dauerhaft krankgeschrieben. Die Hoffnung, das Abitur zu schaffen, hat er aufgegeben. Im realen Leben hat er keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. »Meine Kumpels hab ich online, die kann ich auch offline treffen«, sagt er. Gemacht hat er das allerdings noch nie.
Der PC gehört zum Alltag
Fast klingt es, als seien hier alle Klischees zusammengetragen, um einen besonders krassen Fall zu erfinden. Doch den jungen Mann gibt es wirklich. Er kam zu Professor Dr. Manfred Beutel in die Ambulanz der Klinik und Poliklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz. Aber nicht von allein. Seine Eltern hatten ihn geschickt.
»Solche Probleme haben in mehr als 90 Prozent der Fälle junge Männer«, sagte Beutel beim Kongress für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Berlin. Ob beziehungsweise wie viele Mädchen das Internet suchtartig nutzen, sei dagegen nur wenig erforscht. »Die Studienlage ist widersprüchlich. Manche sagen, Mädchen sind gleich häufig betroffen wie Jungen, andere sagen, es sind weniger«, erklärte Beutel.
Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe wollte Beutel daher in einer Befragung herausfinden, wie häufig Internet-Sucht bei männlichen und weiblichen Jugendlichen ist und wie sich verschieden lange Online-Zeiten auf das Sozialleben auswirken. An der Studie nahmen 2410 zwölf- bis achtzehnjährige Schüler aller Schultypen in Rheinland-Pfalz teil.
Wenig erstaunlich zeigen die Ergebnisse, dass der PC mittlerweile zum Alltag von Jugendlichen gehört: Drei Viertel der Befragten nutzten ihn täglich, im Durchschnitt drei Stunden lang. Nicht eingerechnet war darin die Zeit, die die jungen Leute mit ihrem Smartphone verdaddelten. Insgesamt stieg die Online-Zeit mit dem Alter. »3,4 Prozent der Studienteilnehmer erfüllten die Kriterien für einen suchtartigen Internet-Gebrauch«, sagte Beutel. Dieser Anteil war bei Mädchen und Jungen gleich hoch.
Einen suchtartigen Gebrauch definierten die Wissenschaftler einerseits über die Dauer – mehr als sechs Stunden täglich – und andererseits über klassische Suchtkriterien wie Kontrollverlust, Einengung der Interessen, das Inkaufnehmen schädlicher persönlicher, familiärer und schulischer Konsequenzen und Entzugserscheinungen, die sich etwa in Gereiztheit und Müdigkeit manifestierten. 13,8 Prozent der Teilnehmer zeigten einen ausufernden Gebrauch mit einzelnen, aber nicht allen Suchtsymptomen.
Was die Internet-Junkies online machten, war geschlechtsabhängig unterschiedlich. Jungen zog es auf Rollenspiel- und Sexseiten, Mädchen hielten sich in sozialen Netzwerken auf, chatteten und kauften ein. Für den Umgang mit Gleichaltrigen im wirklichen Leben ist dieser Unterschied sehr bedeutend: Die Nutzung von Facebook und Co. ist der Beziehung zu Gleichaltrigen eher förderlich, dagegen entfremden sich Jugendliche, die exzessiv online spielen oder sich sehr viel auf Sexseiten aufhalten von ihren Altersgenossen, misstrauen ihnen eher, kommunizieren weniger und bauen so letztlich geringere Bindungen auf.
Balance ist wichtig
Um es mitzubekommen, ob ihr Kind sich lediglich minütlich mit der besten Freundin austauscht oder dabei ist, sich zu einem nerdigen Eigenbrötler zu entwickelt, sollten Eltern ihrem Nachwuchs über die Schulter schauen, riet Beutel. »Die Balance ist wichtig: Wer offline viele Sozialkontakte hat, dem schadet auch eine relativ lange Online-Zeit nicht«, sagte der Psychosomatiker. Nimmt der schädliche Internet-Konsum überhand, müssen klare Regeln zu seiner Begrenzung her. Computer-Verbote allein fruchten dabei aber nichts, stattdessen müssen Eltern gemeinsam mit den Jugendlichen Alternativen finden. Und sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn im Wohnzimmer ständig der Fernseher läuft, wird es sehr schwierig, dem pubertierenden Nachwuchs zu vermitteln, dass zu viel Zeit vor dem Bildschirm schädlich ist. /