Aus Inkretin mach Twinkretin |
23.04.2014 10:36 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Inkretin-basierte Therapeutika haben für Typ-2-Diabetiker neue Behandlungswege eröffnet. Mittlerweile tüfteln Forscher daran, wie sich der Effekt auf den Stoffwechsel noch verbessern lässt. Bei einem Symposium der Paul-Martini-Stiftung in Berlin wurden neue Ansätze präsentiert.
Appetit, Körpergewicht, Glucose- und Lipidstoffwechsel – sie alle hängen zusammen und unterliegen zentralen und peripheren Regelkreisen. Um Typ-2-Diabetes erfolgreich zu behandeln, wäre es daher in vielen Fällen sinnvoll, die zentralen appetitanregenden Mechanismen gleich mit zu therapieren. Diese Überlegung hatten Professor Dr. Matthias Tschöp vom Helmholtz Zentrum München und seine Forschungspartner um Professor Dr. Richard DiMarchi aus Amerika.
Kombinationspartner für GLP-1 gesucht
Im Fokus des Mediziners Tschöp und des Chemikers DiMarchi stand zunächst das Glucagon-like Peptid 1 (GLP-1). »Wir wollten die Wirkung von GLP-1 auf den Stoffwechsel noch verbessern«, sagte Tschöp. Dazu suchten sie in der Familie des GLP-1 nach weiteren möglichen Angriffspunkten und fanden sie im Glucose-abhängigen insulinotropen Peptid (GIP) und im Glucagon. Ihr Ziel war, ein Peptid zu entwerfen, das gleichzeitig die Rezeptoren mehrerer dieser Hormone aktiviert. So sollte die antiadipöse und blutzuckersenkende Wirkung auf den Stoffwechsel maximiert werden.
»Ausgerechnet von Glucagon würde man auf den ersten Blick nicht gerade vermuten, dass es sich eignet, um den Blutzucker zu senken«, gab Tschöp zu. Außer der bekannten Wirkung auf den Blutzuckerspiegel habe das Peptidhormon aber noch viele weitere Funktionen im Körper, darunter Lipolyse, Kalorienverbrauch und Thermogenese. Die Arbeitsgruppe entwickelte daher Peptide, die sowohl den GLP-1-Rezeptor aktivieren als auch den Glucagon-Rezeptor.
Der Erfolg gab den Forschern Recht. Im Labor nahmen adipöse Mäuse, denen die Wissenschaftler diese Moleküle spritzten, deutlich an Gewicht ab, obwohl die Tiere sehr fett- und zuckerhaltiges Futter bekamen. Tschöp zufolge lassen sich die Stoffwechsel-Effekte über die Aktivität des Wirkstoffs am Glucagon-Rezeptor steuern. »Je mehr Glucagon-Rezeptor-Aktivität man in die Struktur des Moleküls hineinwählt, desto mehr sinkt das Körpergewicht.« Gleichzeitig werde durch die Wirkung am GLP-1-Rezeptor der Insulinspiegel reduziert und die Glucose-Toleranz verbessert. Dass dieses Konzept tatsächlich einmal adipösen Typ-2-Diabetikern zugute kommen wird, ist nicht unwahrscheinlich, denn »zwei dieser Moleküle werden jetzt in klinischen Studien von der Firma Merck weiterentwickelt«, so Tschöp.
Eine andere Möglichkeit, den Stoffwechsel positiv zu beeinflussen, besteht in der gleichzeitigen Aktivierung von GLP-1 und GIP. »Ein solches Molekül, das am GLP-1- und GIP-Rezeptor angreift, ist dann kein Inkretin mehr, sondern ein Twinkretin«, sagte Tschöp. Obwohl die Wirkung von GIP der von GLP-1 ähnele, sei dieser Ansatz plausibel, da beispielsweise GLP-1 deutlich stärker im Gehirn wirke, wo es kaum GIP-Rezeptoren gebe. Auch hier gelang es DiMarchis Mitarbeitern, Moleküle mit unterschiedlich starker Wirkung auf die beiden Rezeptoren zu entwickeln. Mäuse und Affen, die mit diesen Peptiden behandelt wurden, nahmen dosisabhängig an Gewicht ab, ihre Fettmasse reduzierte sich und der Blutglucosespiegel sank. Tschöp zufolge entwickelt die Firma Roche diese Moleküle jetzt weiter.
Und was ist mit der gleichzeitigen Aktivierung von allen drei Rezeptoren? Auch einen solchen Wirkstoff haben die Forscher entwickelt. »Es ist mit Abstand das potenteste und effektivste Molekül, das wir je in Händen hatten«, so Tschöp. Der sogenannte single molecule triagonist senke im Tiermodell Körpergewicht, Fettmasse, Blutzucker und Cholesterol und werde jetzt ebenfalls von der Firma Roche weiter untersucht.
Weitere Ansätze
Um ihrem Ziel einer personalisierten Stoffwechselmedizin nahe zu kommen, bei der für verschiedene Patienten unterschiedliche Therapien zur Verfügung stehen, testeten Tschöp und Kollegen noch weitere GLP-1-Agonist-Kombinationspartner. So koppelten sie ein GLP-1-Analogon mit einem Estrogen, wobei die Herausforderung darin bestand, sich die Wirkungen des Sexualhormons auf den Stoffwechsel zunutze zu machen, ohne endokrine beziehungsweise onkogene Nebenwirkungen auszulösen. Ein weiteres Konzept ist Tschöp zufolge die Verbindung aus GLP-1-Agonist und dem Glucocorticoid Dexamethason, mit der die hypothalamische Körpergewicht- und Zucker-regulierende Funktion positiv beeinflusst werden soll. Welche dieser Konjugate es am Ende tatsächlich in die klinische Prüfung schaffen, ist derzeit nicht absehbar. /
Ein anderes, gut belegtes Beispiel ist die Unverträglichkeit von Milch- und Fruchtzucker (Kasten). So einfach wie hier sind die Zusammenhänge zwischen genetischer Ausstattung und Nahrungsbestandteilen jedoch selten. Meist ist nicht nur ein Enzym für die Metabolisierung einer Substanz verantwortlich, sodass der Einfluss der Gene auf den Stoffwechsel komplexer ist. Daher ist es bislang nicht möglich, individuelle gezielte Empfehlungen für eine genbasierte Ernährung zu geben.
Spurensuche im Genom: von FTO bis MC4
Die genomische Grundlagenforschung interessiert sich heute besonders für die Wege, die zu so verbreiteten Erkrankungen wie Adipositas und Typ-2-Diabetes führen. Dafür müssen zunächst einzelne Genvarianten, die für eine Erkrankung anfällig machen, identifiziert werden. In den letzten Jahren erzielten Wissenschaftler bei der Suche nach diesen Risikogenen deutliche Fortschritte.
Vergleiche von ein- und zweieiigen Zwillingen sowie leiblichen und adoptierten Geschwistern schätzten den Anteil der Gene am Körpergewicht auf 70 bis 90 Prozent. Die Suche nach einzelnen Genen brachte jedoch ein ernüchterndes Ergebnis: Rund 100 Gene, die mit dem Body-Mass-Index (BMI) in Zusammenhang stehen, erklären nur etwa 3 Prozent der BMI-Varianz. »Die aus Familienstudien resultierende Schätzung scheint offenbar viel zu hoch zu sein«, sagt Dr. Christina Holzapfel vom Institut für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München (TUM) im Gespräch mit der PZ.
Der stärkste Einfluss auf das Körpergewicht wird derzeit dem FTO-Gen (fat mass and obesity associated-Gen) zugeschrieben. Studien zeigen, dass Träger von zwei Risikoallelen einer speziellen FTO-Variante im Durchschnitt 3 kg mehr wiegen als Personen ohne ein Risikoallel. Bis heute sei unklar, welche Mechanismen für diesen Zusammenhang verantwortlich sind, berichtet die Ökotrophologin.
Eine mögliche Rolle des FTO-Gens in der Pathophysiologie der Adipositas haben Wissenschaftler der TUM sowie des Massachusetts Institutes for Technology (MIT) 2015 herausgefunden. Sie konnten zeigen, dass die regulatorische Region innerhalb des FTO-Gens am stärksten in Vorläuferstufen von Fettzellen wirkt – unabhängig von Schaltkreisen im Gehirn. Die Wissenschaftler vermuteten daher, dass fehlgeschaltete Prozesse in den Vorläuferzellen die Fettverbrennung vermindern, die Thermogenese bremsen und die Fettspeicherung fördern (2).
Doch nicht alle Träger einer ungünstigen FTO-Genvariante nehmen deutlich zu, sondern offenbar nur die, die sich wenig bewegen. Diese Interaktion bestätigt Holzapfel: »Wir konnten in einer groß angelegten Analyse zeigen, dass sich mit Sport und Bewegung der Effekt des FTO-Risikogens minimieren lässt« (3).
Im Fokus der Adipositasforschung steht auch ein Gen, das für den Bauplan des Melanocortin-4 (MC4)-Rezeptors codiert. Dieser Rezeptor beeinflusst die Regulation von Appetit und Sättigung. Ist der Rezeptor defekt, entwickeln die Betroffenen teilweise bereits im Kindes- und Jugendalter starkes Übergewicht. Rund 60 Prozent der Träger dieser Genvariante sind übergewichtig. Mutationen des MC4-Rezeptors sind eher selten und betreffen etwa eine von 2000 Personen (4).
Apolipoproteine
Eigentlich sollte es für die Energiebilanz keinen Unterschied machen, welches Fett ein Mensch aufnimmt: gesättigte Fettsäuren aus Wurst oder Palmfett oder ungesättigte Fettsäuren aus Lachs, Oliven- oder Leinöl. 1 g Fett liefert 9 kcal, unabhängig davon, aus welcher Quelle es stammt.
Doch für Menschen mit einer speziellen Ausprägung des Gens für Apolipoprotein (APO) A2 gilt dies nicht: Sie verwerten gesättigte Fette effizienter als ungesättigte. In früheren Zeiten war das ein Überlebensvorteil, vor allem für Bewohner der kälteren Regionen, die sich Jahrhunderte lang von großen Mengen Fett ernährt haben. Heute gilt: Träger des Risikoallels profitieren vermutlich besonders davon, Nahrungsmittel mit einem hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren zu meiden, weil diese bei ihnen besonders anschlagen.
Ein anderes Apolipoprotein, das APOE, spielt beim Cholesterol- und Fettstoffwechsel eine Rolle und kommt in drei Varianten vor: APOE2, E3 und E4. Letztere fördert einen hohen Cholesterolspiegel im Blut und kann das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigern. Träger der APOE4-Variante könnten ihrem erhöhten Risiko mit cholesterolarmen Lebensmitteln entgegenwirken (5, 6).
Übergewicht verändert das Epigenom
Während sich die Gene im Lauf des Lebens kaum verändern, kann sich der Lebensstil in einem veränderten Epigenom niederschlagen. Als Epigenom (griechisch epi: auf, an, bei) wird alles bezeichnet, was auf und um die Gene geschieht. Oft sind es Methyl- oder Acetylgruppen, die an die Gene an- oder abgehängt werden.
Wie sich das Epigenom durch Übergewicht verändert, wurde in einer großen internationalen Studie untersucht und 2016 publiziert (7). Die Studie zeigt, dass ein erhöhter BMI zu epigenetischen Änderungen an rund 200 Stellen des Erbguts führt.
Dazu fahndeten Wissenschaftler im Genom von mehr als 10 000 Personen nach Methylierungsmustern und stellten sie in Relation zum BMI. In einem ersten Schritt mit 5387 Proben ermittelte das Forscherteam 207 Genorte, die abhängig vom BMI epigenetisch verändert waren. Diese Kandidatengene testeten sie dann an 4874 Blutproben und konnten 187 davon bestätigen. Differenzierte Untersuchungen und Langzeitbeobachtungen zeigten, dass ein Großteil der Veränderungen eine Folge des Übergewichts war und nicht dessen Ursache (7). Signifikante Änderungen fanden sich vor allem an Genen, die für den Fettstoffwechsel sowie den Stofftransport zuständig sind. Aber auch bei Genen, die für Entzündungsbotenstoffe wie Interleukine und Zytokine kodieren.
Gene prägen die Stoffwechselantwort
In zwei umfassenden Studien haben Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), der TUM und des Helmholtz-Zentrums München (HMGU) neue Zusammenhänge zwischen bestimmten mit Typ-2-Diabetes assoziierten Genotypen und veränderten Konzentrationen von Stoffwechselprodukten aufgedeckt (8, 9). Für die Untersuchungen wurden innerhalb der Kohortenstudie KORA, einer seit 30 Jahren existierenden Langzeitstudie im Raum Augsburg, Teilnehmer rekrutiert, bei denen kein Typ-2-Diabetes diagnostiziert wurde, die aber Risikogen-Varianten dafür aufwiesen. Die Kontrollgruppe setzte sich aus Teilnehmern ohne erhöhtes Diabetesrisiko zusammen. Letztlich konnten die Forscher daraus ein Risikoprofil, beispielsweise für einen Typ-2-Diabetes, erstellen – noch bevor der Proband erkrankt war.
Wer nun ein solches erhöhtes Risiko hat oder sich bereits im Stadium des Prädiabetes befindet, profitiert deutlich von einer Änderung des Lebensstils. Das gilt generell, allerdings sprechen die einzelnen Menschen sehr unterschiedlich auf solche Interventionen an. Intensiv wird deshalb nach Einzelnukleotid-Austauschen (Single Nucleotide Polymorphisms, SNP) gesucht, die mit dem Lebensstil, insbesondere der Ernährung interagieren und so am individuellen Krankheitsrisiko, aber auch an einer personalisierten Therapie beteiligt sind.
»Inzwischen eröffnen sich durch innovative Technologien und Big Data ganz neue Forschungsansätze«, berichtet die Münchner Ernährungswissenschaftlerin. »Wir können die Vitaldaten von Patienten in Echtzeit erfassen, beispielsweise durch Glucosesensoren, die über 24 Stunden kontinuierlich den Blutzucker messen, oder über Wearables wie Fitnesstracker, die die Herz- und Atemfrequenz ermitteln und die körperliche Aktivität aufzeichnen.« Das Genom zu beforschen, werde dank technologischer Fortschritte immer schneller und kostengünstiger. Ebenso lassen sich das Transkriptom, Proteom, Epigenom und Metabolom heutzutage mit standardisierten Verfahren bestimmen.
Zweifellos hat die Nutrigenetik Potenzial, um mit gezielter Ernährungsintervention Erkrankungen vorzubeugen und sie eventuell auch zu behandeln. Doch noch reichen die Erkenntnisse dazu nicht aus.
Gleichwohl erfreuen sich freiverkäufliche Gentests zunehmender Beliebtheit. Inzwischen kann jeder einen Teil seines Genoms für einige hundert Euro auswerten lassen. Meist hoffen die Verbraucher, so schneller und gezielter abzunehmen. Anhand einer Speichelprobe oder eines Abstrichs der Mundschleimhaut werden spezielle Kandidatengene bestimmt und einem vermuteten Stoffwechseltyp zugeordnet. Der Konsument erhält Empfehlungen zu Kalorienmenge, Nährstoffverteilung und Lebensmittelauswahl sowie zur sportlichen Aktivität.
Die Gesellschaft für Humangenetik warnte in ihrer Stellungnahme bereits 2011 vor der zunehmenden Verbreitung dieser Gentests. Die Käufer würden mit den Ergebnissen ihrer Genanalyse allein gelassen und seien mit möglichen Konsequenzen überfordert. Die Experten schätzen die potenziellen Gefahren einer Fehl- oder Überinterpretation wesentlich höher ein als den beworbenen, aber nicht zweifelsfrei belegten Nutzen. Außerdem sei unklar, wer die Qualität der Analysen und die Interpretation der Ergebnisse kontrolliert. Daher fordern Wissenschaftler Qualitätsstandards für Gentests (16, 17, 18).