Schlangenfleisch und Eberzähne |
25.04.2006 11:09 Uhr |
<typohead type="3">Schlangenfleisch und Eberzähne
von Martin Thoma, Erlangen
An dieser Stelle wurde schon wiederholt von alten pharmakognostischen Sammlungen an deutschen Universitäten berichtet. Nach langem Dornröschenschlaf fanden sie meist durch engagierte Institutsangehörige ans Licht der Öffentlichkeit. Seit 180 Jahren befindet sich auch an der Erlanger Universität eine Drogensammlung, die es wert ist, sich näher mit ihr zu beschäftigen.
Die Geschichte der Erlanger pharmakognostischen Sammlung ist untrennbar mit dem Leben und Wirken von Mitgliedern der Familie Martius verbunden. Der Erlanger Hofapotheker Dr. h. c. Ernst Wilhelm Martius (1756-1849) hielt ab 1818 die neugeschaffenen Vorlesungen der Pharmazie an der Universität Erlangen. Die nach seiner Meinung zu wenig praxisnahe Ausbildung der Studenten und der Mangel an geeignetem naturkundlichen Anschauungsmaterial war Auslöser für die Gründung der Sammlung um das Jahr 1820. In seinen Memoiren schreibt er:
»In dem Vortrage der Materia medica ist in früheren Zeiten der pharmakognostische Theil sehr vernachlässiget worden, indem sich der Lehrer ausschließlich mit den Wirkungen der Arzneistoffe und der Art, sie zu verschreiben, dagegen nicht mit ihrer Naturgeschichte beschäftigte. (...) Um diesem Bedürfnisse auf eine würdige Weise entgegen zu kommen, suchte ich sämmtliche rohe Arzneistoffe von ihrer höchsten Vollkommenheit und Güte bis auf ihre geringste Abstufung und Verfälschung zu sammeln und in instructiven Exemplaren in Kästen und Cylindergläsern aufzustellen.«
Sein Sohn Theodor Wilhelm Christian Martius (1796-1863) führte von 1825 an sowohl die Lehrtätigkeit des Vaters als auch die Erweiterung der pharmakognostischen Sammlung fort. Die von der großen Brasilienexpedition seines Bruders Carl Friedrich Philipp (1794-1868) stammenden Heilpflanzen sowie vor allem seine eigene rege Reise- und Sammeltätigkeit führten dazu, dass die Sammlung über die Landesgrenzen hinaus bekannt und als vorbildlich gerühmt wurde. Sie galt, wie ein zeitgenössischer Autor schreibt, als »das vorzüglichste und pharmakognostische Kabinet in Europa«. Ein Jahr vor seinem Tod verkaufte Theodor die Sammlung an die Universität Erlangen, um sie der Nachwelt zu erhalten.
Die Anzahl der Gegenstände hat sich seitdem nur geringfügig geändert, heute umfasst sie etwa 2400 Objekte. Ihre »Wiederentdeckung« verdankt sie Dr. Wolfgang Schneider, der 1959 als damaliger Lehrbeauftragter für Geschichte der Pharmazie die Einrichtung eines eigenen Sammlungszimmers im Institut für angewandte Chemie, dem heutigen Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie, veranlasste. Hier befindet sich die Martius-Sammlung noch heute.
Bei der Betrachtung der Sammlungsobjekte fallen die durchgängig gleichgestalteten Aufbewahrungsbehältnisse auf. So ließ Martius zum einen mit blauem Papier überzogene und mit gedruckten Papieretiketten versehene Holzkästchen anfertigen, zum anderen zylindrische Gläser, deren Deckel ebenfalls mit blauem Papier überzogen sind. Letztere enthalten hauptsächlich Herbae, Früchte und Samen sowie pulvrige und flüssige Stoffe, die Kästchen dienen vor allem der Aufbewahrung von Radices, Cortices, der Mehrzahl der tierischen Drogen und vieler unstrukturierter pflanzlicher Stoffe wie Gummen und Harze. Bei den Drogen pflanzlichen Ursprungs lassen sich 137 Familien mit insgesamt etwa 700 Spezies unterscheiden. Theodor Martius betont, dass »vorzüglich darauf Rücksicht genommen [wurde], dass jede Drogue in vollkommenen, die wesentlichen Charaktere darstellenden Exemplaren vorhanden sey.« Darüber hinaus versuchte er die Fülle des einstigen pflanzlichen Arzneischatzes zu bewahren und zu dokumentieren, indem er gleichermaßen viele zur damaligen Zeit bereits obsolete Drogen für seine Sammlung erwarb und wohl auch für seine Lehrveranstaltungen heranzog. Das Spektrum der Sammlung beschränkt sich jedoch nicht nur auf Heilpflanzen. Vielmehr war es ein besonderes Anliegen Martius‘, eine möglichst umfassende Zusammenstellung auch jener Naturprodukte zu erstellen, die zu Nahrungszwecken kultiviert wurden oder einer technischen Verwendung dienten. Die große Sortenvielfalt bei Weizen, Reis oder Tee lassen dieses Bestreben noch heute klar erkennen. Aus moderner Sicht, mitunter kurios, muten die zahlreichen Drogen tierischen Ursprungs an, darunter viele, die oft vor langer Zeit als Ausdruck der Signaturenlehre Einzug in die Heilkunde gehalten hatten, wie etwa Hechtkiefer oder Eberzähne. Eine Besonderheit dieses Sammlungsteils stellen die »Trochisci Viperarum« dar. Es handelt sich bei diesen »Vipernküchlein« um Zubereitungen aus dem Fleisch verschiedener Schlangenarten, die zu dünnen Scheiben gepresst wurden und noch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein arzneiliche Verwendung fanden. Durch siegelartige Abdrücke, die ihre Qualität und Herkunft belegen sollten, erhielten sie ein oblatenähnliches Aussehen. Auf den beiden in der Sammlung vorhandenen Trochisci-Stücken ist fragmentarisch eine Prägung zu erkennen, die auf die italienische Herkunft der Droge hinweist.
Der seit jeher überwiegende Beitrag des Pflanzenreichs zum Arzneischatz spiegelt sich in der Vielzahl der Samen, Wurzeln, Blätter und Harze wider, mit denen die Gläser und Kästchen der Sammlung gefüllt sind. Unter ihnen befinden sich auch 75 Drogen, die heute von der Kommission E am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit einer positiven Monografie versehen wurden, wie zum Beispiel die Mariendistelfrüchte oder die Hauhechelwurzel. Es ist also nur ein kleiner Teil der Martius-Drogen, der seine medizinische Bedeutung bis heute behaupten konnte, sieht man von den vielfältigen Behandlungsansätzen mit Arzneipflanzen in der Volksheilkunde ab.
Diese wissenschafts- und kulturhistorisch wichtigen Zeugen könnten nach einem Verlust nicht mehr rekonstruiert werden, denn das hierfür benötigte alte Material ist weltweit nicht mehr verfügbar. In einer Zeit, in der sich die volkstümliche und von Traditionen geprägte Pflanzenheilkunde zur wissenschaftlich untermauerten Phytotherapie wandelt, sollten alle Quellen genutzt werden, um das Heilpflanzen-Wissen zu vermehren.
Literatur beim Verfasser
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Martin Thoma
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