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Essen und Messen

»Die Kalorie ist politisch«

Datum 14.03.2017  14:19 Uhr

Von Ulrike Abel-Wanek / Sie sind in aller Munde und Mittelpunkt vieler Diäten: die Kalorien. Doch seit wann werden sie gezählt – und mit welchen Folgen für den Menschen? Über die Kultur­geschichte der Kalorie sprach die PZ mit der Historikerin Dr. Nina Mackert von der Universität Erfurt.

PZ: Kalorien zählt niemand gerne beim Essen. Dennoch haben sie eine beeindruckende Karriere gemacht und sind überall präsent. Wie kam es dazu?

Mackert: Der Begriff der Nahrungs­kalorie im heutigen Sinne stammt von Max Rubner. Der deutsche Chemiker formulierte 1894 das sogenannte isodynamische Gesetz. Es besagt, dass sich unterschiedliche Nahrungsgruppen beziehungsweise Nährstoffe energetisch gegenseitig vertreten können. Parallel forschte Wilbur O. Atwater in den USA zu den Kalorien. Dort wurden auch erstmals Kalorimeter eingesetzt, mit denen direkt am Menschen gemessen werden konnte, wie der Körper Nahrung verbrennt.

 

PZ: Wie sah so ein Versuch aus?

 

Mackert: Teilgenommen haben Doktoranden von Atwater, aber auch Sportler. Die Experimente setzten gut instruierte Probanden mit viel Verständnis für die Versuche voraus. Ein teilnehmender Nachwuchswissenschaftler hat beispielsweise später selbst ein Paper über das Forschungsprojekt geschrieben.

 

Die Probanden hielten sich mehrere Tage und Nächte im Kalorimeter auf. Der Physiker Edward B. Rosa war maßgeblich an der Konstruktion der Box aus Holz und Kupferrohren beteiligt. Die Versuchsteilnehmer aßen genau berechnete, abgemessene Essenportionen, waren körperlich aktiv und stemmten zum Beispiel Gewichte, oder verhielten sich ruhig. Sie schliefen sogar in der Kammer.

 

Die Experimente dauerten anfangs fünf Tage, später wurden sie auf bis zu 13 Tage ausgedehnt. In dieser Zeit ermittelten die Wissenschaftler die Werte von Ausscheidungen, sowie zugeführten und abgeführten Substanzen wie Sauerstoff und CO2. Die produzierte Wärme der Probanden wurde über Temperaturmessung von mit Wasser gefüllten Rohren in den Wänden der Box bestimmt. Aus allen Werten zusammen wurde schließlich die Kalorienanzahl der Nahrung berechnet und was ein Körper bei bestimmten Aktivitäten braucht, beziehungsweise verbraucht. Damit hatte man erstmals ein Mess-Instrument, das das Verhältnis von Ernährung und Gesundheit kontrollieren sollte.

 

PZ: Welche Auswirkungen hatte das für Mensch und Gesellschaft?

 

Mackert: In den USA wurde die Kalorie zum Beispiel dazu benutzt, Lohnpolitik zu betreiben. Bevor Atwater die kalorimetrischen Untersuchungen machte, hatte er schon Studien zur Ernährung von Arbeiterfamilien durchgeführt. In dieser Bevölkerungsschicht gab es in den Dekaden um 1900 heftige Mangel- und Hungerdebatten – und die Forderung nach mehr Lohn. Mit der Erfindung der Kalorie konnte Atwater nun sagen: Hunger ist keine Folge von zu geringen Löhnen, sondern von der falschen Auswahl von Lebensmitteln. Es gab dann lange Listen mit Ernährungsratschlägen: Billiges Fleisch hat den gleichen Nährwert wie teures. Grünes Gemüse kann durch preiswertere Haferflocken und Bohnen ersetzt werden. Er nannte das »pecuniary economy of food« oder das Konzept des »Nährgeldwertes«. Zugrunde lag diesem Konzept das damals weitverbreitete, thermodynamische Modell vom »menschlichen Motor«: der Mensch als Maschine, in die man Energie hineingibt und Leistung herauskommt. Das thermodynamische Modell war eine Existenzbedingung für die Kalorie.

 

PZ: Die Kalorie wurde also politisch funktionalisiert?

 

Mackert: Absolut. Mit ihr hielt eine neue Machtform Einzug in die Gesellschaft, die sich dann später in ähnlicher Form auch beim Kalorienzählen wiederfindet. Die Kalorie veränderte die Vorstellung davon, was »richtige« Ernährung ist. Das brachte in der westlichen Moderne eine neue Form der »Selbstführung« auf den Weg und machte sie obligat. Das heißt: Die Kalorie verlagerte die Verantwortung für das eigene Gewicht, für Gesund- heit und Lebensführung auf jeden Einzelnen.

 

Mithilfe der Kalorie haben die Menschen dann auch angefangen, abzunehmen. Übergewicht wurde zu einem großen Thema – und zu einem moralischen Problem. Denn ein dicker Körper schien darauf hinzuweisen, dass das Individuum sich selber nicht »richtig führen« konnte. Der erste kommerziell erfolgreiche Diätratgeber empfahl seinen Lesern, dicke Leute auf der Straße anzusprechen und sie zum Kalorienzählen aufzufordern. Was diese wohl auch taten.

 

Viele Menschen haben jedoch auch aus freien Stücken eine Diät gemacht. Für einen Gewichtsverlust bekamen sie gesellschaftliche Anerkennung. Außerdem konnten sie sich als selbstverantwortliche Individuen präsentieren. Die neue »Machtform« durch die Kalorie ist also nicht nur negativ zu bewerten. Es konnte durchaus Spaß machen und nützlich sein, in regulierende Muster und Normen eingebunden zu sein. Auf der anderen Seite verfestigte sich aber so auch die gesellschaftliche Forderung, schlank zu sein.

 

PZ: Was sich heute auch in Schlagworten wie Selbstvermessung und Selbstoptimierung äußert. Das Angebot von Fitness- und Gesundheits-Apps ist mittlerweile riesig.

 

Mackert: Die Vorstellung von der Veränderbarkeit des Körpers scheint heute tatsächlich grenzenlos zu sein. Der Wunsch nach Selbstoptimierung reicht bis in die Gene. Die Geschichte der Kalo­rie ist also sehr aktuell.

 

PZ: Die Kalorie suggerierte, dass es egal ist, was man isst, Hauptsache die Energiebilanz stimmt. Das sieht man heute anders. Ist Kalorienzählen noch angesagt?

 

Mackert: Ja und nein. Zur Zeit ihrer Entstehung drängte die Kalorie Nährwerte wie Kohlenhydrate, Proteine oder Fette zunächst zwar an den Rand. Später galt sie dann als zu allgemein und unpräzise. »One fits all« passte nicht in Zeiten, in denen sich die Menschen immer stärker individualisierten. Kalorien wurden stärker in Nährstoffe aufgeschlüsselt, und es gab die Rede von »guten« und »schlechten« Kalorien. Nachweislich haben auch gleiche Lebensmittel bei unterschiedlichen Menschen oft ganz unterschiedliche Effekte. Dennoch hat die Kalorie heute aber weiter Konjunktur. Sie taucht fast überall im öffentlichen Raum auf, ist in fast allen Diätratgebern präsent und auf nahezu jeder Lebensmittelverpackung. Speziell beim Thema Gewichtskontrolle zählt am Ende doch die Kalorienbilanz, so heißt es. In den USA stehen in manchen Restaurants statt Preisen die Kalorien auf der Speisekarte.

 

PZ: Und was verdirbt Ihnen davon eher den Appetit?

 

Mackert: Die Kalorien. /

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