Zappelphilipp braucht mehr als Medikamente |
16.02.2009 14:30 Uhr |
<typohead type="3">ADHS: Zappelphilipp braucht mehr als Medikamente
Glaubt man den Umfragen unter Lehrern, so gibt es immer mehr hyperaktive Kinder. Die tatsächliche Prävalenz ist jedoch relativ niedrig. Wie sieht die richtige Therapie von Zappelphilipp und Träumsuse aus? Und geht die Pharmakotherapie bei ADHS mit einem erhöhten Suchtpotenzial einher?
Die drei Kernkriterien der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind Impulsivität, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung. Das alleine reicht aber noch nicht aus, um die Diagnose ADHS stellen zu können. »Die Symptome müssen in mindestens zwei unterschiedlichen Situationen auftreten, und sie müssen für mindestens sechs Monate bestehen«, informierte Professor Dr. Michael Huss von der Universität Mainz. Meistens handle es sich bei ADHS sogar um eine zeitstabile Störung, die lebenslang bestehe. Beachtet man neben den drei Kernsymptomen auch das Zeit- und Settingkriterium, so sinkt die ADHS-Prävalenz deutlich. Zwar bleibt es mit einer Prävalenz von etwa 4 bis 5 Prozent eine häufige kinderpsychiatrische Störung. Von einer Epidemie könne aber keinesfalls die Rede sein, so der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine repräsentative Stichprobe mit 14.000 Kindern habe zudem ergeben, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen erkranken (7,9 versus 1,8 Prozent) und dass in unteren sozialen Schichten ADHS doppelt so häufig wie in der Oberschicht ist. (6,4 versus 3,2 Prozent).
Bis zur Diagnose ADHS ist es Huss zufolge ein langer und zeitaufwendiger Prozess. Das beste Werkzeug für die Diagnose sei nach wie vor das Interview des erfahrenen Arztes. Der müsse sich das Kind in unterschiedlichen Situationen ansehen und sowohl das Kind als auch die Eltern und Lehrer befragen. Ärzte sollten sich immer fragen, was es außer ADHS vielleicht noch sein könnte. »Ansonsten besteht die Gefahr, dass ADHS sonst zu einer Modediagnose verkommt«, warnte der Mediziner.
Die leitlinienkonforme Behandlung bedeutet dem Referenten zufolge, multimodal zu therapieren. Nur Medikamente zu geben, reiche nicht aus. Beispielsweise müssten auch familienbezogene Interventionen erfolgen, etwa die Umstellung des Erziehungsstils der Eltern. »Andernfalls arbeitet man mit dem Medikament gegen Windmühlen«, brachte es Huss auf den Punkt.
Er informierte, dass zu etwa 80 Prozent genetische Faktoren bei der Entstehung von ADHS eine Rolle spielen, es somit »ADHS-Familien« gibt, in denen die Erkrankung über Generationen hinweg weitervererbt wird. Ursache von ADHS sei ein Zuviel an Dopamin-Rücktransportern im synaptischen Spalt. Dieser sorgt dafür, dass Dopamin seine Wirkung an den Rezeptoren nicht entfalten kann. Der seit Langem eingesetzte Wirkstoff Methylphenidat blockiert diese Transporter, sodass sich Dopamin im synaptischen Spalt anreichert. Der Chemiker Leandro Panizzon synthetisierte die im Jahr 1950 patentierte Substanz. Der Handelsname Ritalin geht auf den Vornamen seiner Frau Rita zurück, die beim Tennis spielen eine belebende Wirkung der Substanz festgestellt hatte. Ursprünglich sollte Methylphenidat als Roborans (Kräftigungsmittel) zum Einsatz kommen. Das Krankheitsbild, das das Mittel später berühmt machte, war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beschrieben.
Huss informierte, dass mittlerweile mehrere retardierte Metyhlphenidat-Präparate zur Verfügung stehen, etwa Concerta® Retardtabletten, Equasym® Retard und Medikinet® retard. Huss' Ratschlag: Letzteres sollten Kinder zusammen mit dem Frühstück einnehmen. Eine Alternative zu den Methylphenidat-haltigen Stimulanzien ist der Wirkstoff Atomoxetin (Strattera®). Während die Stimulanzien direkt in das dopaminerge System eingreifen, wirkt Atomoxetin indirekt dopaminerg. Der Wirkstoff beeinflusst als selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer die Dopamin-Aktivität im präfrontalen Cortex. Im Gegensatz zu Methylphenidat setze eine spürbare Wirkung von Atomoxetin erst nach einigen Wochen ein. Vorteile biete der Wirkstoff zum Beispiel, wenn neben den ADHS-Kernsymptomen auch Angststörungen oder Depressionen auftreten.
»Die Compliance in der ADHS-Therapie ist katastrophal«, sagte Huss. Die Hälfte der verordneten Tabletten käme nicht über die Lippen der Kinder. Ein Grund dafür könnte die Angst vor Nebenwirkung und Langzeitschäden sein. Häufig komme die Frage auf, ob mit Medikamenten therapierte ADHS-Kinder ein erhöhtes Suchtpotenzial für andere Drogen im Erwachsenenalter haben. Da die Verteilung von Methylphenidat und Cocain im ZNS sehr ähnlich ist, seien diese Sorgen auch nachvollziehbar. Die meisten Studien haben aber gezeigt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Die Neigung zum Drogenkonsum im Erwachsenenalter werde durch Methylphenidat eher verringert als erhöht. Möglicherweise stellt sich die Situation anders dar, wenn erst im Erwachsenenalter mit der Pharmakotherapie begonnen wird, so Huss. Das werde derzeit genauer untersucht.