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Zivilisatosen

Das Leid mit dem Luxus

21.01.2008  11:01 Uhr

Zivilisatosen

<typohead type="3">Das Leid mit dem Luxus

Von Ulrike Abel-Wanek

 

Deisler- oder Burnout-Syndrom: Die Medien sind voll mit Berichten über sogenannte Lifestyle-Erkrankungen. Was heute in der Zeitung steht, ist morgen schon Thema in der Praxis oder Apotheke. Wolfgang Harth und Andreas Hillert nähern sich den derzeit kursierenden Modekrankheiten aus ärztlicher Sicht.*

 

Neu ist das Phänomen der Lifestyle-Krankheiten nicht. Schon im 19. Jahrhundert gab man der Hektik des Industriezeitalters die Schuld für ein erschöpftes Nervensystem. Immer mehr Menschen litten unter »Neurasthenien« als Folge eines überfordernden Lebenswandels. Heute gibt es vergleichbare Störungen. Zwischen 1997 und 2004 nahmen beispielsweise bei den berufstätigen DAK-Versicherten die Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen um 70 Prozent zu. Verantwortlich soll ein nach hauptsächlich ökonomischen Bedingungen ausgerichtetes Leben sein. Auch instabile private Beziehungen und fehlende soziale Netzwerke werden als Ursache genannt.

 

Neu ist heute das enorme Tempo der medialen Verbreitung und das große Interesse der Öffentlichkeit an solchen Phänomenen. Kein Tag, an dem nicht Persönlichkeiten aus Film, Sport oder Mode den oft eher abstrakten Symptomkonstellationen hinter den Modeerkrankungen ihr Gesicht und ihren Namen geben. Der Burn-out-Begriff wurde nicht zuletzt durch den sich als betroffen »outenden« Fußballnationalspieler Sebastian Deisler populär.

 

Harth und Hillert nennen vier Hauptgruppen psychosomatischer Lifestyle-Erkrankungen, die zurzeit aktuell öffentlich diskutiert werden. Ganz oben steht die große Gruppe der depressiven Erkrankungen, zu denen auch das Burn-out-Syndrom gehört. Vom »Ausgebrannt sein« sind bekanntlich beruflich sehr engagierte Menschen betroffen. Ihnen erlaubt die Diagnose, nicht mit dem Stigma einer psychischen Erkrankung behaftet zu sein. Vielmehr sind sie Opfer einer gesellschaftlich geforderten überdurchschnittlichen Leistungsbereitschaft. Burn-out ist kein Tabu, das zeigen Tausende von Veröffentlichungen zum Thema, die Diagnose scheint Betroffene eher auszuzeichnen. Das gilt auch für den »Workaholic«, der im Urlaub oder am Wochenende mit Migräne oder Gliederschmerzen abgeschlagen das Bett hütet. Diese »Weekend-Krankheit« oder »Leisure-Sickness« trifft chronisch überlastete Menschen, deren Körper auch Entspannungsphasen nicht mehr für Reparaturvorgänge nutzen kann.

 

#Zur Häufung einzelner, meist körperlicher Beschwerden führe die öffentlich oft unsachlich geführte Diskussion über »Umweltgifte«, so die Autoren. Betroffene klagten wahlweise über Herzrasen, Atemnot, Schleimhautreizungen oder Konzentrationsstörungen. Verantwortlich sein sollen toxische Ausdünstungen aus Gebäuden (Sick-Building-Syndrom), Elektrosmog von beispielsweise Überlandleitungen, Amalgam-Füllungen oder sogar der Samen des Partners (Sperma-Allergie), obwohl ein Kausalzusammenhang zwischen Exposition und Ausmaß der Beschwerden nicht nachgewiesen werden kann. Hier muss der Zeitgeist und mit ihm ein ganzer Pool modischer Krankheitsbegriffe als Ventil für Ängste und Traumata vieler Menschen herhalten.

 

Makellose Schönheit und Jugend ist ein Lifestyle-Diktat, dem sich immer mehr Menschen unterwerfen. Sogar gesundheitsschädigende Maßnahmen werden dafür in Kauf genommen. Das Streben nach den meist unerreichten Schönheitsidealen und die schmerzhaft empfundene Diskrepanz von Selbstbild und Ideal verstärkten Selbstwertstörungen und Minderwertigkeitsprobleme, so die Autoren. Tanorexie nennt man beispielsweise die Sucht nach ständiger Hautbräune durch häufige Solariumsbesuche. Der Begriff leitet sich aus dem englischen »to tan« (bräunen) und der Anorexie ab. Die psychische Konstellation ist vergleichbar mit der Abhängigkeit von Drogen, Medikamenten, Alkohol oder Nikotin und zeigt Parallelen zu den verzerrten Körperschemastörungen von Magersüchtigen.

 

Der »Lifestyle« brachte auch den Begriff der »Botulinophilie« hervor. Seit der Einführung von Botulinumtoxin zur Behandlung der Hyperhidrose entdeckten Gesunde diese »Therapieform« für sich. Trotz normaler körperlicher Funktionen lassen sie sich nicht von der falschen Beurteilung als Krankheit abbringen. Ein typisches Patientenzitat ist: »Aber ich schwitze doch.«

 

Auch für die Ausbildung des »Dorian-Gray-Syndroms«, also der übermäßigen Beschäftigung mit der äußeren Erscheinung, der Scham über den kleinsten körperlichen Makel und dem starken Wunsch, nicht zu altern, machen die Autoren den hauptsächlich medial propagierten Schönheitskult verantwortlich. Offen bleibt, ob die stattliche Anzahl schönheitschirurgischer Arztpraxen das auch so kritisch sieht.

 

Flucht in Lifestyle-Phänomene sind auch in anderen Kulturen zu beobachten. Wenn der Stress überhandnimmt, ziehen sich viele Japaner aus Gesellschaft und Familie für mindestens sechs Monate zurück, schließen sich regelrecht ein und versuchen, Leistungsdruck und Konsumzwang zu entfliehen. Hikkomori heißt die Flucht in die Sicherheit der eigenen vier Wände. Ein epidemisch, ebenfalls in Asien auftretendes Massenphänomen mit bis zu 300 Erkrankungen in wenigen Tagen ist das Koro-Syndrom. Es beschreibt die plötzliche, große Angst bei Männern, ihr Penis könne sich komplett in den Körper zurückziehen.

 

Zur Therapie von Lifestyle-Krankheiten liegen bisher keine Studien vor. Häufig kämen jedoch Antidepressiva zum Einsatz, berichten die Autoren.

 

Typisch für die modebedingten Erkrankungen ist ihre diagnostische Unschärfe. Das mache es auch schwer, kritisieren Harth und Hillert, eventuell dahinter verborgene, schwerwiegende Ursachen aufzuspüren. Der »Burn-out«-Begriff werde beispielsweise als eigenständige Krankheit dargestellt, »gewissermaßen aus der Medienperspektive heraus formuliert«. Der Betroffene ist somit frei von potenziell stigmatisierenden Diagnosen wie Depression, sein Leiden ist sozial akzeptiert, außerdem befindet er sich damit im unmittelbaren Vergleich bekannter Größen aus Politik, Gesellschaft - und der Medizin: Studien zufolge leiden 20 Prozent der Ärzte am Lifestyle-Phänomen »Burn-out«.

 

 

*) Wolfgang Harth, Klinik für Dermatologie und Phlebologie, Vivantes Klinikum, Berlin Friedrichshain, und Andreas Hillert, Medizinisch-Psychosomatische Klinik Roseneck, Prien am Chiemsee: Der Hautarzt 10, 2007, Springer Medizin-Verlag

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