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Klinefelter-Syndrom

Ein X zu viel beim Mann

Datum 11.01.2011  12:55 Uhr

Von Christina Hohmann / Etwa einer von 1000 Männern in Deutschland hat das Klinefelter-Syndrom: Er besitzt neben den zwei Geschlechtschromosomen ein zusätzliches X-Chromosom. Die Symptome sind anfangs oft so milde und unspezifisch, dass die Chromosomenaberration nicht auffällt. Doch ab der Pubertät kann es zu Problemen kommen.

Das Klinefelter-Syndrom ist unterdiagnostiziert. »Hochrechnungen zufolge leben in Deutschland etwa 80 000 Männer mit der Anomalie, diagnostiziert sind 5000«, sagte Franz Schorpp, Vorsitzender der Deutschen Klinefelter-Syndrom Vereinigung, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. Die Organisation will dazu beitragen, diese Situation zu ändern und über das Krankheitsbild zu informieren. »Gerade auch Apotheker sollten Bescheid wissen«, sagt Schorpp, deshalb ist die Vereinigung regelmäßig auf der Expopharm in München vertreten. Denn Apotheker seien wichtige Ansprechpartner für die Betroffenen, die eine lebenslange Testosteronsubstitution benötigen.

Ursache der Erkrankung, die 1942 vom US-amerikanischen Arzt Harry Klinefelter erst­mals beschrieben wurde, ist eine Chromo­so­menfehlverteilung. Betroffene Männer besitzen neben den 44 Körperchromosomen und zwei Geschlechtschromosomen ein zusätzliches X-Chromosom, also die Kons­tellation 47, XXY. Die normale Konstellation eines Mannes ist 46, XY.

 

Das zusätzliche X-Chromosom gelangt bei der Bildung der Gameten, also der Ei- oder der Samenzelle, und der hierfür nötigen Reduktion des doppelten Chromosomen­satzes auf den einfachen Satz in den Zell­kern. Der Grund hierfür ist, dass sich die X-Chro­mosomen während der Reifeteilung nach der Verdopplung nicht trennen – beide Chromosomen gelangen bei der Zellteilung in die gleiche Tochterzelle. Dies kann entweder bei der Bildung der Eizellen oder der Spermien geschehen. Bei der Befruchtung entsteht dann ein Organismus, der in allen Körperzellen das Karyogramm 47, XXY aufweist. Neben diesem klassischen Typ des Klinefelter-Syndroms, das etwa 80 Prozent aller Betroffenen aufweisen, können auch Mosaikformen auftreten, bei denen in verschiedenen Körperzellen jeweils unterschiedliche Chromosomensätze vorhanden sind. Zudem gibt es auch seltene Sonderformen mit den Konstellationen 48, XXXY oder 48, XXYY und 49, XXXXY.

 

Das zusätzliche X-Chromosom wird im Zellkern inaktiviert, wie es bei Frauen, die auch zwei X-Chromosomen besitzen, ebenfalls der Fall ist. Doch das zweite, stillgelegte X bleibt nicht folgenlos: Eventuell ist es nicht ständig inaktiviert, wodurch es zu einer zeitweiligen Überexpression von X-gekoppelten Genen kommen könnte. Der genaue Mechanismus ist noch unklar. Die Folgen sind eine Unterentwicklung der Hoden und eine verringerte Testosteronproduktion. Diese Symptome sind allen Betroffenen gemein, erklärt Schorpp. Zusätzlich können weniger charakteristische Anzeichen wie Antriebsarmut, Lernschwierigkeiten oder Müdigkeit auftreten. Vor der Pubertät sei das Syndrom wegen der milden Symptome sehr schwer zu erkennen, sagt Schorpp. Betroffene Jungen seien eher ruhig und sanft und zeigten zum Teil Störungen der sprachlichen oder motorischen Entwicklung. Diese Verzögerungen ließen sich mit Logopädie und Ergotherapie ausgleichen, sofern eine Diagnose vorliegt. Das ist aber nur selten der Fall. Zum Teil werde das Syndrom bereits pränatal zum Beispiel bei der Fruchtwasseruntersuchung erkannt. Dann sei eine frühe Förderung des Kindes vor der Pubertät möglich. Meist wird die Diagnose Klinefelter allerdings erst deutlich später gestellt – etwa bei der Musterung. »Bei Männern in festen Partnerschaften fällt das Syndrom häufig erst bei längerer Kinderlosigkeit und bei alleinstehenden Männern durch eine frühe Osteoporose auf«, berichtet Schorpp, der selbst betroffen ist.

 

Fehlendes Testosteron

 

Ab der Pubertät werden die Folgen des Testosteronmangels deutlich erkennbar: Die Pubertät ist verzögert und die durch das Sexualhormon angeregte Vermännlichung des Körpers wird unterdrückt oder fällt deutlich schwächer aus als bei anderen Männern. Sekundärbehaarung und Bartwuchs sind vermindert, die Stimme kann hoch bleiben und die Libido ist zum Teil verringert. Da Testosteron auch Einfluss auf die Knochenbildung hat und das Schließen der Wachstumsfugen bedingt, sind Betroffene meist hochgewachsen und haben eine erhöhte Beinlänge. Der Hormonmangel kann zudem zu einem Mangel an roten Blutkörperchen, Muskelschwäche und Osteoporose führen.

Ein Effekt des Testosteronmangels ist auch, dass die betroffenen Männer unfruchtbar sind. Sie produzieren keine funktionstüchtigen Spermien (Azoospermie). Einzelne Betroffene besitzen in ihrer Samenflüssigkeit eine geringe Zahl von Spermien, doch diese reichen für eine Befruchtung auf natürlichem Weg nicht aus. Die Spermien lassen sich aber durch eine Hodenbiopsie aus dem Gewebe entnehmen und können dann für eine In-vitro-Befruchtung verwendet werden.

 

Ersatz des Hormons

 

Da das Sexualhormon so wichtige Funktionen im Organismus hat, sollte der Mangel ausgeglichen werden. »Die meisten Betroffenen brauchen im Laufe ihres Lebens und dann zeitlebens eine Testosteronsubstitution«, sagte der Endokrinologe und Androloge Professor Dr. Eberhard Nieschlag vom Beirat der Deutschen Klinefelter-Syndrom Vereinigung gegenüber der PZ. Bei einigen Männern können sich die Hormonwerte im Normalbereich von 12 bis 35 nmol/l befinden, in der Regel liegen sie aber deutlich darunter. »Sobald die Werte unter der Norm liegen oder die Symptome stark ausgeprägt sind, sollte mit einer Testosterontherapie begonnen werden«, so Nieschlag. Zuvor sei aber ein Prostatakarzinom auszuschließen, weil Testosteron das Wachstum der Prostata anregt. Zudem sollte der Patient unter der Therapie gründlich überwacht werden. Hierzu gehört die regelmäßige Kontrolle des Prostatawachstums und des Blutbildes, um eine überschießende Produktion von roten Blutkörperchen zu verhindern. Neben dem Testosteron werden auch die Werte des luteinisierenden Hormons (LH) sowie von Estradiol bestimmt. Denn bei einer hochdosierten Testosterontherapie können auch die Spiegel der weiblichen Sexualhormone stark ansteigen, was zu einer Brustentwicklung (Gynäkomastie) führen kann. Da Klinefelter-Patienten ein 20-fach erhöhtes Risiko für eine Brustkrebserkrankung im Vergleich zur Normalbevölkerung haben, gehört auch ein regelmäßiges Abtasten der Brust zu den ärztlichen Kontrolluntersuchungen. Zudem sollte alle zwei bis drei Jahre die Knochendichte bestimmt werden.

 

Testosteron kann dem Körper auf verschiedenen Wegen zugeführt werden: Es stehen Pflaster, Gele und Spritzen zur Verfügung. »Es gibt keine gravierenden medizinischen Gründe, die für oder gegen ein bestimmtes Präparat sprechen«, sagt Nieschlag. »Die Patienten können im Prinzip nach ihren Vorlieben entscheiden.« Jüngere Männer bevorzugten in der Regel Depotspritzen, die nur alle drei Monate appliziert werden müssen. Ältere Betroffene arbeiteten gerne mit Gelen, berichtete der Experte. Für die verschiedenen Präparate geben die jeweiligen Hersteller Standarddosierungen an, die auch bei Klinefelter-Patienten eingesetzt werden. Die Dosis müsste dann vom Arzt noch individuell angepasst werden.

 

Bei der Anwendung der verschiedenen Applikationsformen gibt es einiges zu beachten. Gele werden in der Regel einmal täglich aufgetragen – auf Bauch, Schulter oder Oberarme. Sie trocknen rasch und führen zu gleichmäßigen Testosteronspiegeln. Nach dem Auftragen des Gels sollten die Patienten ihre Hände gründlich mit Wasser und Seife waschen, um die Übertragung des Hormons auf andere Personen zu verhindern.

 

Die Testosteronpflaster werden auf die unbehaarte Haut an Oberarm, Oberschenkel oder den unteren Rücken aufgeklebt, wo sie zwei Tage verbleiben. Trotz der geringeren Hormonmengen führen sie zu ähnlichen Spiegeln wie die Testosterongele. Da die Pflaster auch nach 24-stündigem Tragen noch Reste des Hormons enthalten und sie aus diesem Grund eine potenzielle Gefahr für andere Personen (vor allem Schwangere und Kinder) darstellen, sollten sie sicher entsorgt werden. Hierfür ist jeder Packung ein Sammelbehälter beigefügt.

 

Weniger Compliance als Gele und Pflaster erfordern Depot-Spritzen. Bei diesen wird das Hormon als ölige Lösung in den Gesäß- oder Oberschenkelmuskel injiziert. Je nach Präparat hält die Wirkung drei bis vier Wochen oder drei Monate an.

Selbsthilfe

Die Deutsche Klinefelter-Syndrom Vereinigung ist auf der Website www.klinefelter.de zu finden. Dort bietet sie Betroffenen und deren Angehörigen Informationen zur Erkrankung und Therapie sowie Hilfe und Austauschmöglichkeiten mit anderen Betroffenen an. Dort ist auch eine Liste mit spezialisierten Ärzten zu finden.

Durch die Substitution des Hormons bessern sich einige der für das Klinefelter-Syndrom typischen Symptome: Osteoporose und Muskelschwäche wird vorgebeugt, die Müdigkeit lässt nach und die körperliche Leistungsfähigkeit nimmt zu. Schorpp, der erst mit 32 Jahren die Diagnose Klinefelter und daraufhin eine Therapie erhielt, weiß den Nutzen der Substitution zu schätzen. »Ich fühlte mich wie neu geboren.« Viele seelische und körperliche Beschwerden besserten sich und die Lebensfreude stieg kontinuierlich an. »Vieles wäre mir erspart geblieben, wenn die Krankheit früher erkannt und die Hormonbehandlung zu Beginn der Pubertät begonnen worden wäre.« /

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