Augenärzte räumen mit Mythen auf |
Annette Rößler |
24.04.2024 09:00 Uhr |
Kurzsichtige sollten ihre Sehschwäche mit einer passenden Brille oder Kontaktlinsen ausgleichen. Trotz Kurzsichtigkeit keine oder eine zu schwache Brille zu tragen, ist keine zielführende Strategie. / Foto: Getty Images/Tempura
Kurzsichtigkeit (Myopie) hat in den vergangenen Jahrzehnten weltweit so stark zugenommen, dass teilweise schon von einer Epidemie die Rede ist. Das gilt besonders für urbane Regionen in Ost- und Südostasien, etwa Großstädte in China, Japan, Singapur, Südkorea und Taiwan. Dort sind mittlerweile bis zu 90 Prozent der jungen Erwachsenen kurzsichtig, während in Europa und Nordamerika bis zu 42 Prozent in dieser Altersklasse betroffen sind.
Die Sehschwäche stellt an sich meist kein großes Problem dar, denn sie lässt sich mit einer Brille oder mit Kontaktlinsen in der Regel gut ausgleichen. Allerdings empfinden es manche Betroffene als lästig, auf solche Hilfsmittel angewiesen zu sein. Zudem kann Kurzsichtigkeit jeder Ausprägung, insbesondere aber sehr starke Myopie, das Risiko für Komplikationen erhöhen, die letztlich sogar zur Erblindung führen können. Hierzu zählen etwa eine Netzhautablösung, Glaukom und Katarakt oder auch eine myopische Makuladegeneration. Daher wird zu den Ursachen und möglichen Strategien zur Verhinderung der Entstehung beziehungsweise des Fortschreitens von Kurzsichtigkeit nach wie vor geforscht.
Kurzsichtigkeit ist eine Form Sehschwäche, bei der Betroffene Gegenstände in der Nähe scharf, in der Ferne aber unscharf sehen. Dies rührt in den meisten Fällen daher, dass der Augapfel relativ zu lang ist, sodass der Brennpunkt vor der Netzhaut liegt. Abweichungen der Sehschärfe werden in Dioptrien (dpt) angegeben, wobei negative Werte Kurzsichtigkeit bedeuten und positive Werte Weitsichtigkeit (Hyperopie). Als leichte Kurzsichtigkeit gelten ≤ –0,50 bis –3,00 dpt, als mittelstarke –3,00 bis –5,00 oder –6,00 dpt und als starke oder auch hohe Myopie Werte ab –6,00 dpt.
Die meisten Kinder sind als Neugeborene weitsichtig und werden im Verlauf der ersten Lebensjahre normalsichtig. Dies geht mit einem Nachlassen der Brechkraft der Linse und einer Verlängerung des Augapfels einher – zwei Prozesse, die normalerweise aufeinander abgestimmt sind und sich im weiteren Verlauf der Kindheit und Jugend fortsetzen. Irgendwann in der dritten Lebensdekade ist das Längenwachstum des Augapfels schließlich abgeschlossen.
Als Erstklässler sind die meisten Kinder normal- oder leicht weitsichtig. Eine Kurzsichtigkeit entwickelt sich in der Regel erst bei älteren Schulkindern. / Foto: Adobe Stock/Igor
Die Erfahrung, dass es unter Umständen lange dauern kann, bis neue Erkenntnisse sich durchsetzen, hat drei Forschende im Bereich der Augenheilkunde dazu bewogen, in einem Beitrag der Rubrik »Viewpoint« im Fachjournal »JAMA Ophthalmology« mit alten Mythen rund um die Kurzsichtigkeit aufzuräumen. Es sei wichtig, dass ihre Kolleginnen und Kollegen in den Augenarztpraxen diesbezüglich up to date seien, schreiben Professor Dr. Carla Lanca von der Neuen Universität Lissabon in Portugal, Professor Dr. Michael X. Repka von der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, und Professor Dr. Andrzej Grzybowski von der Universität Ermland-Masuren in Olsztyn, Polen.
Mythos 1: Starke Kurzsichtigkeit ist nur in Asien ein Problem
Lange sei man davon ausgegangen, dass Kurzsichtigkeit vor allem genetisch bedingt sei und dass Menschen mit asiatischer Ethnie verstärkt betroffen seien, weil sie eine besondere Veranlagung dafür haben. Dies werde mittlerweile jedoch nicht mehr so gesehen: Zwar spiele die Genetik bei der Entstehung von Kurzsichtigkeit eine Rolle, sie sei aber weder der einzige noch der entscheidende Faktor. Hinter der raschen und starken Zunahme der Kurzsichtigkeit in asiatischen Großstädten stecke vielmehr der hohe Bildungsdruck, der dazu geführt habe, dass Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit am Schreibtisch und drinnen statt im Freien verbringen. Es gebe keine Evidenz dafür, dass sich die genetische Veranlagung für Kurzsichtigkeit zwischen Asiaten und Europäern grundsätzlich unterscheide, so die drei Autoren.
Mythos 2: Schulmyopie ist nicht gefährlich
Von einer Schulmyopie spricht man, wenn Kinder im Schulalter, meist etwa mit 8 bis 15 Jahren, kurzsichtig werden. Dies werde allgemein als eine Einschränkung gesehen, mit der man gut leben kann und die letztlich eine Anpassung der Augen auf den modernen Lebensstil darstellt. Lanca, Repka und Grzybowski weisen aber darauf hin, dass insbesondere Kinder, die bereits im Alter von sieben bis acht Jahren kurzsichtig werden, ein erhöhtes Risiko haben, später eine hohe Myopie und entsprechende Komplikationen zu entwickeln. Bereits bei den Kleinsten sollte daher die Sehstärke kontrolliert werden, um eine Kurzsichtigkeit frühzeitig zu bemerken und gegebenenfalls zu behandeln. Hierzu ist etwa die regelmäßige Anwendung von Atropin-Augentropfen gebräuchlich.
Mythos 3: Im Erwachsenenalter nimmt Kurzsichtigkeit nicht weiter zu
Im jungen Erwachsenenalter kommt das Längenwachstum des Augapfels zum Stillstand und mit ihm auch meist die Zunahme einer Kurzsichtigkeit. Das müsse aber nicht für alle Betroffenen gelten, so die drei Augenärzte: In einer Studie aus Singapur sei bei 18 Prozent der jungen Erwachsenen mit Myopie diese weiter fortgeschritten. Risikofaktoren waren in diesem Fall chinesische Ethnie und weibliches Geschlecht, doch gebe es auch aus nicht asiatischen Populationen Berichte von einem Fortschreiten der Sehschwäche im jungen Erwachsenenalter.
Mythos 4: Eine absichtliche Unterkorrektur verlangsamt das Fortschreiten von Kurzsichtigkeit
Viele Menschen glauben, dass Kurzsichtigkeit langsamer zunimmt, wenn man bewusst eine zu schwache Brille trägt, die Sehschwäche also leicht unterkorrigiert. Das Auge ist aber kein Muskel, der durch Training gestärkt werden könnte, und eine Unterkorrektur hat bei Myopie nicht den gewünschten Effekt. Dass dieser Mythos sich in der Bevölkerung und auch unter Augenärzten so hartnäckig halte, liege an einer Studie aus den 1960er-Jahren, schreiben die Autoren. Evidenz aus neueren Untersuchungen habe aber gezeigt, dass eine Unterkorrektur sogar zu einer noch stärker ausgeprägten Kurzsichtigkeit führen könne. Auch die Brille nur hin und wieder zu tragen, sei wahrscheinlich keine zielführende Strategie.
Mythos 5: Nur starke Kurzsichtigkeit erfordert Gegenmaßnahmen
Abschließend machen Lanca, Repka und Grzybowski noch einmal deutlich: Alle Kinder mit (beginnender) Kurzsichtigkeit sollten mit einer korrigierenden Sehhilfe versorgt und gegebenenfalls auch behandelt werden. Wirksamste Gegenmaßnahme ist es, mehr Zeit im Freien zu verbringen. Als Behandlungsansätze kommen Atropin-Augentropfen oder auch sogenannte Kontaktlinsen zur Myopiekontrolle in Betracht.
Letztere gleichen die Sehschwäche an ihren Rändern weniger gut aus als in einem zentralen Bereich, um das Auge bei Akkommodationsschwierigkeiten zu unterstützen. Ebenfalls gebräuchlich sind harte Kontaktlinsen, die die Hornhaut formen: Sie werden nur nachts getragen und führen schließlich zu einer Abflachung der Hornhaut. Mit solchen Ansätzen gibt es aber laut einer Übersichtsarbeit im Fachjournal »Nature Reviews« aus dem Jahr 2020 noch keine Langzeiterfahrungen.