Atropin und ab ins Freie |
Daniela Hüttemann |
20.05.2024 16:00 Uhr |
Weitsicht ist das beste Mittel gegen Kurzsichtigkeit. Kinder sollten sich auch der Augen zuliebe täglich zwei Stunden im Freien bewegen. / Foto: Getty Images/ Ippei & Janine Photography
»Ob wir Kurzsichtigkeit verhindern können sei dahingestellt. Wir können den Verlauf aber auf jeden Fall günstig beeinflussen«, sagte Dr. Peter Heinz, Augenarzt aus Schlüsselfeld und Vorstandsmitglied der Stiftung Auge, bei deren Pressekonferenz. Denn eine starke Kurzsichtigkeit (Myopie), also viele Minus-Dioptrien, ist ein Risikofaktor für viele Folgeerkrankungen am Auge wie Grauer Star und Glaukom, Netzhautablösung und Makuladegeneration – alles degenerative Augenerkrankungen, die bis zur vollständigen Erblindung führen können. Eine Myopie entsteht, wenn der Augapfel zu lang ist und dadurch der Brennpunkt etwas vor der Netzhaut liegt.
Wie so oft in der Prävention gilt: Je früher, desto besser. Wichtig sei es daher, bei Kindern mit Kurzsichtigkeit so gut es geht gegenzusteuern, solange der Augapfel noch wächst. Schlecht für die Augen ist es tatsächlich, lange beziehungsweise viel im Nahbereich fokussieren zu müssen, vor allem unter schlechten Lichtverhältnissen. »Hier muss sich der Augapfel mehr anstrengen, was sein Wachstum stimulieren kann«, erklärte der Referent. Der Augapfel kann übrigens bis zum 25. oder gar 30. Lebensjahr noch wachsen.
Die Bildschirmzeit sollte daher begrenzt werden. »Kinder sollten vor allem möglichst viel ins Freie, am besten zwei Stunden am Tag«, so Heinz. »Das ist auch für den Stoffwechsel und die Entwicklung insgesamt gut.« In Taiwan, wo der Anteil der kurzsichtigen Kinder besonders hoch ist, gebe es bereits während der Schulzeit zwangsweise Lernpausen, in denen die Kindern nach draußen müssen. Das habe tatsächlich bereits Effekte gezeigt, berichtete Heinz. In Deutschland gelten der letzten KiGGS-Studie zufolge 11,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen als kurzsichtig.
Eine Fehlsichtigkeit sollte so früh wie möglich erkannt und durch eine Brille korrigiert werden. Fällt also bei der U-Untersuchung beim Kinderarzt oder zu Hause auf, dass das Kleinkind Sehprobleme hat, sollte man mit ihm zum Kinderaugenarzt gehen. Aber auch wenn alles normal erscheint, sollten Kinder zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr zum ersten Mal zum Experten, riet Heinz, bei familiärer Vorbelastung auch schon eher, ebenso bei Frühgeborenen oder wenn eine Stoffwechselerkrankung wie Diabetes vorliegt.
Wichtig sei eine Bestimmung der Sehstärke »unter Ausschaltung der Akkommodation«, also getropft, da sonst eine zu starke Brille verordnet werden könnte, wenn das Kind sich anstrengt. »Zu starke Minusgläser können die Progression jedoch verstärken«, warnte Heinz.
Kurzsichtige Kinder sollten zudem regelmäßig augenärztlich untersucht werden, um die Progression zu verfolgen und zu entscheiden, ob eine medikamentöse Therapie der Myopie und spezielle optische Hilfsmittel infrage kommen. Eine Behandlung mit niedrig dosierten Atropin-Augentropfen (0,01 Prozent) sei angezeigt, wenn sich die Kurzsichtigkeit eines Kindes im Alter von sechs bis 14 Jahren jedes Jahr um eine halbe Dioptrie oder mehr verschlechtert.
Die Tropfen müssen dann über mehrere Jahre einmal täglich abends angewendet werden. Auch wenn der genaue Wirkmechanismus noch nicht bekannt ist: »Die Datenlage hierzu ist solide und das Verhältnis von Nutzen und Nebenwirkungen günstig«, betonte Heinz. Allerdings gibt es kein Fertigpräparat. Die Familien sind auf Rezepturen aus der Apotheke angewiesen (mehr dazu im DAC/NRF-Rezepturhinweis Atropin und Atropinsulfat). »Die Kosten werden in der Regel leider nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt«, so der Augenarzt, doch die Kosten hielten sich in Grenzen.
Alternativ oder in Kombination gebe es optische Methoden. »Diese haben als Gemeinsamkeit, dass entweder neben dem ersten auf die Fovea fokussierten Bildeindruck ein zweiter vor die Netzhaut fokussierter Bildeindruck (bei einigen Kontaktlinsen und bei Brillengläsern mit zentraler Aussparung) generiert wird oder der Bildeindruck so gebogen wird, dass er in der Peripherie vor der Netzhaut liegt, was beides ein Stoppsignal für das Augenwachstum seitens der Netzhaut darstellt«, erläuterte der Referent.
Wie für die Atropin-Therapie gilt: Kindern zwischen sechs und 14 Jahren könnten multifokale oder orthokeratologische Kontaktlinsen angeboten werden, wenn eine Myopie-Progression von mindestens 0,5 Dioptrien pro Jahr besteht und bei den Kontaktlinsen ein korrektes Tragen und eine adäquate Hygiene garantiert sind.
Ähnlich funktionierten Multisegment-Brillengläser. Hier sind in die Brillengläser so geschliffen, das sie einen zweiten Fokus vor der peripheren Netzhaut generieren, erklärte Heinz. Randomisierte, kontrollierte Studien mit einer Beobachtungsdauer von zwei bis drei Jahren hätten eine Halbierung der Myopie-Verschlechterung gezeigt. Doch auch die optischen Hilfsmittel würden in der Regel nicht von den Krankenkassen bezahlt.
Ob die Kombination aus Atropin-Behandlung und speziellen Brillen oder Kontaktlinsen einen synergistischen Effekt hat, wird derzeit noch in Studien untersucht. »Wenn man diese Behandlungsjahre durchhält, kann man die Kurzsichtigkeit deutlich reduzieren und damit auch das Risiko dadurch bedingter Augenerkrankungen verringern«, verdeutlichte Heinz.