Arzneimittelausgaben: Verdopplung bis 2060 möglich |
Melanie Höhn |
01.06.2023 16:00 Uhr |
Geht man von einem Szenario aus, in dem der Alterungsprozess besonders teuer wird, also besonders Menschen in der Hochrisikogruppe stetig älter werden, könnten die Arzneimittelausgaben pro Kopf bis 2060 sogar um bis zu 150 Prozent steigen, heißt es von der WHU. / Foto: IMAGO/IlluPics
Die Gründe des Kostenanstiegs für Behandlungen und Arzneimittel im Gesundheitswesen in Deutschland und anderen Industrienationen sind laut WHU-Studie unterschiedlich: Menschen werden immer älter, der medizinische Fortschritt ermöglicht komplexere Behandlungsmethoden und Risikogruppen benötigen zahlreiche teure und neue Medikamente. All diese Faktoren seien Kostentreiber, dennoch seien die Ausgaben je nach Patienten- und Risikogruppe extrem ungleich verteilt.
Laut Studie zeigen die Zahlen der Gesetzlichen Krankenversicherungen für das Jahr 2022, dass die verschiedenen Quellen der Kostensteigerung im Gesundheitssystem unterschiedlich stark ins Gewicht fallen. So stiegen die Ausgaben für Arzneimittel beispielsweise um 5,5 Prozent pro Kopf an, was den mit Abstand größten Kostensprung verursachte. Aber auch die Pro-Kopf-Ausgaben für die stationäre Behandlung (3,2 Prozent), zahnärztliche Behandlung (2,9 Prozent) und die ambulante Behandlung (1,9 Prozent) sorgten für Kostensteigerungen.
Jedoch würden die Zahlen der Krankenkassen auch zeigen, dass die individuellen Gesundheitsausgaben von Patientinnen und Patienten extrem unterschiedlich ausfallen. Für das Prozent der Versicherten, welches die höchsten Kosten verursacht, würden 20 Prozent der Mittel der Gesundheitsversorgung ausgegeben, für die teuersten 10 Prozent bereits mehr als die Hälfte. Betrachtet man nur die Ausgaben für Medikamente, klaffe die Schere sogar noch weiter auseinander – und sie gehe immer weiter auf. Bislang würden jedoch kaum Studien existieren, die sich auf die Entwicklung der mittel- und langfristigen Arzneimittelausgaben konzentrieren.
Für politische Entscheidungsträger und die Gesellschaft sei es laut WHU von Interesse zu erkennen, wie sich der Medikamentenkonsum in unterschiedlichen Patientengruppen entwickelt. Sich bei der Analyse der Kostensteigerungen von Arzneimittelausgaben allein auf das Geschlecht und Alter der Patienten zu fokussieren, greife zu kurz, so das Urteil der WHU. Besonders relevant dagegen sei die kleine Gruppe von Hochrisikopatienten, bei der sich die steigenden Ausgaben stark konzentrieren.
Schon die Modellierung eines Basisszenarios, welches ein gleichmäßiges Wachstum der Arzneimittelausgaben in den kommenden Jahren annimmt, gehe von einer Kostensteigerung von 40 Prozent zwischen den Jahren 2019 bis 2060 aus. Andere Szenarien sind dabei noch deutlich pessimistischer. Wird die bisherige Ausgabenentwicklung für Hochrisikopatienten in der Modellierung berücksichtigt, werden die 40-prozentigen Mehrausgaben für Medikamente schon 2040 erreicht, bis 2060 könnten sich die Arzneimittelausgaben mehr als verdoppeln. Geht man von einem Szenario aus, in dem der Alterungsprozess besonders teuer wird, also besonders Menschen in der Hochrisikogruppe stetig älter werden, könnten die Arzneimittelausgaben pro Kopf bis 2060 sogar um bis zu 150 Prozent steigen.
Welche der Projektionen auch immer zutreffen mag, die Ausgaben für Medikamente werden in den kommenden Jahrzehnten weiterhin drastisch ansteigen, so die WHU-Studienautoren. Während andere demografische Faktoren vernachlässigbar seien, hänge die zukünftige Kostensteigerung vor allem von der Kostenentwicklung bei Medikamenten in den verschiedenen Risikogruppen ab und davon, ob auch die Hochrisikogruppen von einer steigenden Lebenserwartung profitieren.
Da die Gesundheitsausgaben in den OECD-Ländern mittlerweile jährlich schneller steigen als das jeweilige Bruttoinlandsprodukt, sollten Politiker wissen, so die WHU, woher die Kostensteigerung kommt – nämlich von den erhöhten Arzneimittelausgaben für Hochrisikogruppen, bei denen besonders kostspielige, neue Medikamente (insbesondere bei der Krebstherapie) zum Einsatz kommen. Daher müssten politische Entscheidungsträger die aktuell wohlwollende Bewertung neuer Medikamente für seltene Erkrankungen und die großzügige Preiserstattung überdenken, um die Kosten im Gesundheitssektor unter Kontrolle zu behalten. Die Studienautoren empfehlen, die Erstattung neu zugelassener Medikamente im hochpreisigen Segment auf europäischer Eben zu regeln und damit auch günstiger zu machen. Um die Medikamente bei der Preisgestaltung angemessen zu beurteilen, müsse ihr tatsächlicher Nutzen für Lebenserwartung und Lebensqualität der Patienten strenger überprüft werden.