Apps als Kassenleistung - eine Übersicht |
Ev Tebroke |
04.01.2021 11:00 Uhr |
Seit Oktober diesen Jahres können Ärzte auch digitale Anwendungen auf Rezept verordnen. Noch gibt es erst wenige Anbieter und erst 12 Prozent der Bevölkerung nutzen ein solches Angebot. Aber das dürfte sich bald ändern. / Foto: Adobe Stock/diego cervo
Sie sind eine ganz neue Möglichkeit in der Gesundheitsversorgung. Und Deutschland ist bislang weltweit das einzige Land, das sie als Kassenleistung anbietet: digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Diese sogenannten Apps auf Rezept können etwa die Behandlung von Tinnitus oder Migräne unterstützen. Oder sie könnten zur Überwachung bekannter bestehender Erkrankungen wie Diabetes oder Herzleiden dienen. Seit Anfang Oktober sind die ersten Anwendungen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen und in das entsprechende Verzeichnis aufgenommen worden.
Noch ist diese Art der medizinischen Therapie wenig verbreitet. Lediglich 12 Prozent der Bevölkerung nutzen eine solche App auf Rezept. Aber immerhin 40 Prozent wollen dies in naher Zukunft tun. Das ergab eine Umfrage des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller (BAH). Grundsätzlich halten demnach zwei Drittel aller Befragten diese Art von Apps für sinnvoll.
Mit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) sind seit dem 6. Oktober 2020 auch digitale Gesundheitsanwendungen erstattungsfähig. Damit Kassen die Kosten für eine solche Anwendung übernehmen, muss sie im DiGA-Verzeichnis des BfArM gelistet sein. Dazu muss sie die Anforderungen an Sicherheit, Funktionstauglichkeit, Qualität, Datenschutz und Datensicherheit erfüllen, zudem muss der Hersteller die positiven Versorgungseffekte der Anwendung nachweisen. Ist solch ein Nachweis noch nicht möglich ist, können DiGAs auch zur Probe befristet für zwölf Monate in die Versorgung aufgenommen werden. Welche Anforderungen und Verfahren für die Prüfung auf Erstattungsfähigkeit gelten, das regelt wiederum die sogenannte Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV).
Bislang sind neun DiGA beim BfArM verzeichnet, aus unterschiedlichen Versorgungbereichen: etwa zur Behandlung der Fatigue bei Multipler Sklerose; zur Therapie von Angststörungen wie etwa Platzangst oder Sozialphobien; zur Therapie bei psychischer Schlafstörung; zur Unterstützung der Gewichtsreduktion bei Adipositas. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zeigt sich mit der aktuellen Entwicklung zufrieden, wie Jan Hensmann, Leiter des BMG-Referats »Grundsatzfragen der Gematik, Telematik-Infrastruktur und E-Health« betonte. »Wir sind gut balanciert gestartet«, sagte er im Rahmen einer Infoveranstaltung des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller (BAH) Anfang Dezember. Derzeit seien weitere Anwendungen im Prüfverfahren, es gebe aber immer wieder auch Kandidaten, die zurückstellten, was Hensmann als Beweis für die stringenten Qualitätsstandards wertet, die die Anwendungen für eine Zulassung und damit Listung erfüllen müssten.
Für die Rahmenvereinbarung zur Preisbildung zwischen Herstellern und Kassen stand bei den DiGAs die AMNOG-Vereinbarung Pate, also die Regelungen zur Preisfindung bei neuen Arzneimitteln, die 2011 mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) geschaffen wurden. Entsprechend der Situation bei neuen Arzneimitteln können auch bei den DiGAs die Hersteller das erste Jahr auf dem Markt den Preis ihres Produkts frei bestimmen. Die Preise der derzeit am Markt befindlichen Anwendungen sind derzeit aus Kassensicht durchaus beachtlich: So kostet die Tinnitus-App die Kassen pro Quartal und Patient rund 117 Euro, die Anwendung zur Angststörung 476 Euro, für die DiGA bei Adipositas zahlen die Kassen aktuell 499 Euro.
Ab dem 13. Monat nach Markteintritt gilt dann der ausgehandelte Erstattungspreis. Und die Differenz zwischen Herstellerpreis und verhandeltem Erstattungspreis ist rückwirkend auszugleichen. »Wir erwarten Ausgleichzahlungen in beide Richtungen«, so Hermann Kortland, Vize-Hauptgeschäftsführer des BAH, der einen Überblick über den aktuellen Status Quo bei den Rahmenverhandlungen gab. Für den Fall, dass keine Einigung zustande kommt, setzt die Schiedsstelle einen Preis fest. Schiedsentscheide sind laut Kortland vor dem für den Hersteller zuständigen Sozialgericht anfechtbar – anders als im AMNOG-Verfahren, wo es in solchen Fällen automatisch vor das Berliner Landessozialgericht geht. Und ein weiterer Unterschied: Bei den DiGA sind 13 Spitzenverbände maßgeblich an den Verhandlungen eines Rahmenvertrags beteiligt, beim AMNOG sind es fünf Herstellerverbände.
Kortland zufolge erzielten die seit 29. Juni 2020 laufenden Rahmenvertragsverhandlungen gute Ergebnisse und sind fast abgeschlossen. Streitpunkt ist aber vor allem die Forderung der Kassenseite nach Festsetzung von Höchstbeträgen – ähnlich den Festbeträgen bei Arzneimitteln. Hierzu hat der GKV-Spitzenverband am 24. Oktober einen Schiedsantrag gestellt. Was die Gruppierungssystematik betrifft, so wollen die Kassen sich an einer Methode des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE) orientieren – der Höchstbetrag soll per Algorithmus ermittelt werden. Die Hersteller lehnen dies ab. Der DiGA-Markt sei noch zu neu und heterogen um standardisierte Schemata anzuwenden, so die Kritik. Statt »Äpfel mit Birnen zu vergleichen« sollte vielmehr der Tagestherapiepreis leitend für den Höchstbetrag sein.
Unklar ist zudem, wann die Preisverhandlungen für Apps starten sollen, die zur Erprobung im DiGA-Verzeichnis gelistet sind. Die Kassenseite will die Verhandlungen sechs Monate nach Aufnahme im Verzeichnis beginnen, die Herstellerseite ab Tag der Bestätigung über die dauerhafte Aufnahme in die Liste, sprich nach Ablauf des Erprobungszeitraums. Am 12.Januar 2021 soll es eine mündliche Verhandlung der Schiedsstelle geben. Den Vorsitz der Schiedsstelle hat Gesundheitsökonom Jürgen Wasem, Stellvertreterin ist die Sozialrechtlerin Professor Katharina von Koppenfels-Spieß von der Uni Jena. Unparteiische Mitglieder sind Christopher Hermann, Ex-Chef der maßgeblich für die Rabattverträge verantwortlichen AOK Baden-Württemberg sowie sein Stellvertreter Johann-Magnus Freiherr von Stackelberg, Ex-Vize des GKV-Spitzenverbands. Auf Herstellerseite sind es Rechtsexperte Professor Ulrich M. Gassner von der Universität Augsburg sowie sein Stellvertreter der Volkswirtschaftler Professor Christian Wey von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Die Verankerung der DiGA will das BMG aktuell mit dem Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG) weiter vorantreiben. Mit dem Entwurf wird zudem bereits die zweite Stufe gezündet: die digitale Pflegeanwendung (DiPA). Der Bundesverband Internetmedizin kritisiert den derzeitigen Regelstand jedoch. »Die Einführung von digitalen Pflegeanwendungen wird ausdrücklich begrüßt. Allerdings starten die DiPA als eine Art DiGA light mit deutlich geringeren Anforderungen und Möglichkeiten.« Demnach ist im Gegensatz zu den DiGA keine Erprobung vorgesehen, zudem gibt keine freie Preisbildung im ersten Jahr. Der Verband fordert, die Zulassung der DiPA denen der DiGA anzugleichen. Es sei zudem nicht ausgeschlossen, dass ein Produkt in beiden Kategorien angewandt werden kann und soll.