Apotheker sollten fit in Suizidprävention sein |
Jennifer Evans |
14.10.2022 09:00 Uhr |
In Zukunft wird es immer entscheidender sein, dass Apothekerinnen und Apotheker wissen, wie sie mit suizidgefährdeten Personen umgehen. / Foto: Adobe Stock/Robert Kneschke
Psychische Erkrankungen sind ein globales Gesundheitsproblem, von dem weltweit mehr als 1 Milliarde Menschen betroffen sind. Die Covid-19-Krise und der Fachkräftemangel haben die Situation zusätzlich verschärft. In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen haben nach Angaben des Weltapothekerverbands FIP bereits vor der Pandemie mehr als 75 Prozent der Betroffenen keine angemessene Behandlung bekommen. In Zukunft wird es daher aus Sicht der Organisation erforderlich sein, dass auch immer mehr Apotheken rund um den Globus psychosoziale Dienste übernehmen.
Ihr Engagement wäre in vielen Bereichen möglich und gewinnbringend – wie etwa beim Screening auf psychische Erkrankungen, der Überweisung betroffener Patienten an entsprechende Fachärzte sowie die Beratung zu Therapieoptionen. In einem nächsten Schritt könnten die Apotheken dann die Therapie begleiten und ihren Patienten bei der Einnahme von Psychopharmaka zur Seite stehen, auch während eines möglichen Übergangs der Versorgung vom stationären in den ambulanten Sektor. Der Vorteil für die Apotheken: Sie könnten zeitgleich noch engere Beziehungen zu anderen Fachleuten aus dem Gesundheitswesen aufbauen, um so optimale Ergebnisse für ihre Patienten zu erzielen. Wichtig ist laut FIP im Hinterkopf zu behalten: Der Bedarf an psychosozialen Dienstleistungen kann sich regional unterscheiden. Unterschiedliche Patientenpopulationen hätten unterschiedliche psychische Gesundheitsprobleme in unterschiedlichen sozialen Kontexten.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie nicht mehr weiterleben möchten oder denken Sie daran, Ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen? Reden hilft und entlastet. Die Telefonseelsorge hat langjährige Erfahrung in der Beratung von Menschen in suizidalen Krisen und bietet Ihnen Hilfe und Beratung rund um die Uhr am Telefon (kostenfrei) sowie online per Mail und Chat an. Rufen Sie an unter den Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 oder melden Sie sich unter www.telefonseelsorge.de. Die Beratung erfolgt anonym.
Der Weltapothekerverband weist aber auch darauf hin, dass die nationalen Verbände ihre Erfahrungen und Fortschritte in diesen Bereichen gut dokumentieren, anerkennen und bewerten lassen sollten, damit sie bessere Argumente gegenüber der Politik haben. Auch die Zusammenarbeit mit Universtäten sei in diesem Zusammenhang wichtig, damit diese Pharmazie-Lehrpläne oder berufliche Weiterbildungsangebote künftig anpassen könnten.
Konkret geht es darum, dass Apotheker das Vertrauen ihrer Patienten in Zukunft auch dafür nutzen sollten, um anhand von Symptomen jene Menschen zu identifizieren, die möglicherweise an einer psychischen Erkrankung leiden. Auch bei heftigen Reaktionen auf persönliche Lebenskrisen könnten die Pharmazeuten im Notfall eine entscheidende Rolle spielen und erste Ansprechpartner sein. Als Arzneimittelexperten sind sie außerdem prädestiniert dafür, um Probleme zu erkennen, die direkt in Zusammenhang mit der Medikation auftreten. In diesen Fällen könnten sie die Behandlung weiter überwachen oder beim Absetzen der Medikamente mitwirken. Darüber hinaus erschient es zunehmend sinnvoll, sie auch in die Suizidprävention einzubinden, indem sie beispielweise die Abgabe von bestimmten Präparaten einschränken oder auf Hilferufe reagieren. Was die therapeutische Beziehung mit Patienten angeht, die unter psychischen Erkrankungen leiden, rät der FIP dazu, auf umfassende Aufklärung, offene Kommunikation, Zusammenarbeit, gegenseitigen Respekt sowie gemeinsame Entscheidungsfindung zu achten.
In ihrem Vortrag beim diesjährigen FIP-Kongress in Sevilla ging Hayley Gorton, Senior-Dozentin im Fachbereich Pharmazie an der University of Huddersfield, insbesondere auf das Thema Suizidprävention ein. Für sie ist die Offizin nämlich der ideale Ort, um Selbstmordgefährdete aufzufangen. Denn die Apotheke biete einen geschützten, vertrauensvollen Raum, sei leicht zugänglich und außerdem wäre dort stets ein Gesundheitsexperte verfügbar. Das Problem: Die Apothekenteams sind auf Ernstfälle meist nicht vorbereitet und wissen nicht, wie sie reagieren sollen – egal, ob ein Betroffener direkt vor ihnen steht oder in der Apotheke anruft. Sie kritisierte scharf, dass entsprechendes Training in diesem Bereich in vielen Ländern schlichtweg fehlt.
So selten kommen Situationen dieser Art nämlich gar nicht vor. Amal Akour, die in der Abteilung für Biopharmazie und Klinische Pharmazie an der Universität von Jordanien tätig ist, berichtete in ihrem Vortrag, dass 45 Prozent der Suizidgefährdeten etwa einen Monat vor ihrem geplanten Selbstmord einen Vertreter aus dem Gesundheitsbereich kontaktieren. Beispielhaft nannte sie Zahlen aus einer nordamerikanischen Untersuchung, die demnach gezeigt hatte, dass 85 Prozent der Suizidgefährdeten sogar ihre Apotheke vorher informierten. Und umkehrt 28 Prozent der Apotheker bereits schon einmal Kontakt zu einem Patienten hatten, der dann verstorben ist.
Ihrer Ansicht nach ist die Lage alarmierend und schreit nach entsprechenden Weiterbildungsangeboten. Grundsätzlich gelte es, Apothekenteams das nötige Wissen im Umgang und der Kommunikation zu vermitteln, ihnen mögliche Ängste und Vorurteile zu nehmen und ihnen die Zeit und Privatsphäre für Betroffene einzuräumen sowie den Zugang zu der nötigen Medikation bereitzustellen. Ebenso wichtig wie die Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen sei eine Vergütung für die Leistung. In ihren Augen könnte im Notfall womöglich bereits ein telepharmazeutisches Angebot helfen, das Schlimmste zu verhindern.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.