Apotheken als Anker |
Brigitte M. Gensthaler |
16.10.2024 10:00 Uhr |
Demenzkranke Menschen spüren oft eine große Unsicherheit und Unruhe. Da kann die vertraute Apotheke ein Ort der Entspannung sein. / © Getty Images/ivanastar
Das Wort »Demenz« ist ein Defizitbegriff, der wörtlich einen Geistesverlust beschreibt. »Aber Demenz ist eine Art und Weise, zu altern und zu sterben. Demenzkranke Menschen geben uns häufig viel zu lernen, denn sie haben ihre eigene unverblümte Weisheit«, sagte Dr. Eckhard Frick SJ, Professor für Spiritual Care am TU-Klinikum rechts der Isar in München, kürzlich bei einem WIPIG-Vortrag über Demenz, Glaube und Spiritualität in der Offizin.
Der Psychiater und Theologe beschrieb Spiritualität als überkonfessionellen und interreligiös offenen »Breitbandbegriff«, der Verbundenheit, Sinn des Lebens und Transzendenz umfasst. Spiritualität und die Suche nach dem Selbst seien auch für Demenzerkrankte wichtig, auch wenn sie es mit Worten nicht (mehr) ausdrücken können. Die Themen Heilen und Heilung suchen seien spirituell verankert. »Die Seele ist das unverlierbar Wertvolle im Menschen und bleibt immer erhalten als Kern des Menschen.«
Frick sieht Alleinstellungsmerkmale der öffentlichen Apotheke. »Man trifft hier Menschen, die fragen, wie es einem geht; hier gehen Menschen auf die Suche und Bedürfnisse anderer ein. Das schafft kein Online-Dienst.« Apotheken als Institution seien rund um die Uhr und ohne Termin ansprechbar und gesprächsbereit. Durch ihre Niederschwelligkeit könnten sie alle Menschen, auch Randgruppen, erreichen und auf einen hohen Vertrauensvorschuss bauen.
Betriebe, die sich als »Demenzfreundliche Apotheke« qualifiziert haben, hätten diesen Auftrag besonders angenommen, so der Jesuit. Sie böten Demenzerkrankten und ihren An- und Zugehörigen einen besonderen und sicheren Ort, an dem diese willkommen sind. »Es geht um Herzlichkeit und den Fokus auf das, was möglich ist, nicht auf Defizite.«
Überfordert das die Apotheken und ihre Teams nicht? Tatsächlich könne der wirtschaftliche und pharmazeutisch-medizinische Blick daran hindern, den ganzen Menschen zu sehen. Zudem gebe es in der Offizin kaum Privatheit, räumte Frick ein. Mitarbeitende könnten in Konflikt kommen und sich fragen: Wie weit geht meine Freundlichkeit, wie weit bin ich zuständig und verpflichtet?
Auch Zeitdruck wird oft als belastend wahrgenommen. Jedoch: »Demenzfreundlichkeit ist keine Frage großer Quantität, sondern der Einstellung und Qualität.« Es gehe nicht um endlose Gespräche, sondern darum, wie die Apotheke Demenzkranke in Empfang nimmt.
Apotheken könnten auch zum Verweilen einladen, zeigte Frick ein Beispiel einer Apotheke, die in der Offizin ein buntes Sofa aufgestellt hat. Primärer Zweck einer Offizin sei der Durchgang zum HV-Tisch; neu sei der Auftrag zum Verweilen.
Demenzkranke Menschen spürten oft eine große Unsicherheit und Unruhe, weil sie sich nicht sicher sind, wo sie wohnen, wer sie sind, was sie gerade machen. »Da kann die bekannte Apothekerin oder der Apotheker ein Anker sein.« Einen müden, unsicheren oder hilflosen Kunden zum Hinsetzen einzuladen, könne eine angespannte Situation entschärfen und das Team akut entlasten. Im Sitzen könne man Emotionen wie Ärger, Zorn oder Trauer des Kunden vielleicht besser auffangen als am HV-Tisch.
Apotheken könnten Teil einer »Caring Community« (sorgende Gemeinschaft) werden oder darauf hinweisen, sagte Frick. Dies ist ein neuer Oberbegriff für Initiativen in einer Gemeinde oder einem Ort, die zusammen helfen, damit Menschen sich beheimatet wissen und wohlfühlen. Sie wollen ein Gegengewicht zum Trend zur Vereinzelung, zur Auflösung von Familien und Gemeinschaften bilden.
Im übertragenen Sinn könnten die Berufsangehörigen auch als »Reiseapotheke« hilfreich sein, meinte der Theologe. »Viele Demenzkranke sind auf der Reise, auch medizinisch gesehen, und suchen ihr Zuhause.« Für sie könne die Apotheke als Bezugspunkt oder als Teil der Heimat dienen. Dies gelte umso mehr, wenn sich Demenzfürsorge und Palliativversorgung berühren, wenn es also um die letzte Reise geht.
»Apotheken und ihre Teams helfen bei der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit; es sind vertraute Orte mit gesprächsbereiten Menschen.« Oder wie eine Kollegin aus langjähriger Berufserfahrung im Chat resümierend schrieb: Apotheken können niederschwellige Seelsorge für die Menschen bieten.