Absetzen kann problematisch sein |
Annette Rößler |
06.06.2024 07:00 Uhr |
Bereits vor dem Beginn einer Therapie mit einem Antidepressivum soll laut geltender Leitlinie mit dem Patienten besprochen werden, dass es beim Absetzen zu vorübergehenden Problemen kommen kann. / Foto: Getty Images/fizkes
Antidepressiva greifen in zentrale Neurotransmittersysteme ein und verändern diese. Da ist es nicht verwunderlich, dass nach dem Absetzen Symptome auftreten können, die auf diesen Veränderungen beruhen. In der Vergangenheit standen Absetzphänomene bei Antidepressiva aber eher wenig im Fokus der Wissenschaft; teilweise wurde ihre Existenz sogar negiert.
Auch heute noch gebe es in medizinischen Fachkreisen »polarisierte Positionen zur Inzidenz und Schwere von Absetzsymptomen bei Antidepressiva sowie eine andauernde Debatte in den Medien«, schreibt eine Gruppe um Dr. Jonathan Henssler von der Berliner Charité und Professor Dr. Christopher Baethge von der Universität Köln im Fachjournal »The Lancet Psychiatry«. Dass es diese Symptome gibt, sei aber mittlerweile unumstritten. Die Autoren verweisen auf neue Kapitel in internationalen und nationalen Leitlinien, in denen empfohlen wird, Patienten bereits vor dem Start der Einnahme auf mögliche Risiken eines abrupten Absetzens hinzuweisen und die Wirkstoffe auszuschleichen.
Absetzsymptome von Antidepressiva könnten sehr variabel und unspezifisch sein; am häufigsten genannt würden Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen und Reizbarkeit. Die Symptome träten typischerweise innerhalb weniger Tage nach dem Absetzen auf und seien vorübergehend, könnten jedoch einige Wochen oder sogar Monate andauern. Unklar sei bislang gewesen, wie häufig Absetzsymptome vorkommen und wie schwerwiegend sie sind. Diese Fragen adressierte die Gruppe daher in einer systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse.
Diese umfasste 44 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) und 35 Beobachtungsstudien mit insgesamt 21.002 Patienten, von denen 16.532 ein Antidepressivum abgesetzt hatten und 4470 ein Placebo. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 45 Jahren, der Frauenanteil bei 72 Prozent. Nach dem Absetzen der Medikation war bei 31 Prozent der Patienten in den Verumgruppen mindestens ein Absetzsymptom aufgetreten, aber auch bei 17 Prozent in den Placebogruppen, sodass die Autoren von einem starken Noceboeffekt ausgehen. »Netto« seien demnach nur bei rund 15 Prozent der Patienten Absetzsymptome zu erwarten, die direkt auf dem Antidepressivum beruhten.
Die berichteten Symptome umfassten vor allem Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen und Reizbarkeit. Eine schwerwiegende Symptomatik lag bei etwa 3 Prozent der Patienten vor. Das Risiko für schwerwiegende Absetzsymptome war nach der Einnahme von Imipramin, Paroxetin und (Des)Venlafaxin höher als bei anderen Substanzen. Wirkstoffspezifische Aussagen zu treffen, ist anhand dieser Arbeit jedoch nur bedingt möglich, denn viele Antidepressiva wurden nur in einer einzigen Studie untersucht und einige häufig angewendete Wirkstoffe wie Mirtazapin, Bupropion oder Amitriptylin waren mangels geeigneter Studien gar nicht vertreten.
Als weitere Einschränkungen nennen die Autoren die verschiedenen Methodiken der einzelnen Studien, die teilweise nur bedingt miteinander vergleichbar gewesen seien. Auch bestehe bei allen Studien, die den Verlauf nach dem Absetzen eines Antidepressivums untersuchten, eine Schwierigkeit darin, mögliche Absetzsymptome von Symptomen eines Wiederauftretens der Depression abzugrenzen.
Ob das Antidepressivum abrupt abgesetzt oder ausgeschlichen worden war, hatte in der Untersuchung keinen Einfluss auf das Risiko für eine Absetzsymptomatik. Auch dieses – unerwartete – Teilergebnis führen die Autoren allerdings auf methodische Unterschiede zwischen den einzelnen Studien zurück, etwa verschieden lange Zeiträume, über die ausgeschlichen wurde, und auch verschiedene Wirkstoffe. Generell gilt, dass es nach der Einnahme von Antidepressiva mit langer Halbwertszeit eher selten zu Absetzsymptomen kommt, doch in der Nationalen Versorgungsleitlinie »Unipolare Depression« wird nach einer Erhaltungstherapie oder Rezidivprophylaxe prinzipiell ein Ausschleichen über mindestens acht bis zwölf Wochen empfohlen.
»Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass alle Patienten nach dem Einnahmestopp eines Antidepressivums professionell beraten, überwacht und unterstützt werden«, betont Henssler in einer begleitenden Pressemitteilung. Diese Metaanalyse sollte aber eine Beruhigung darstellen, da laut ihr Absetzsymptome nicht so häufig auftreten, wie es einzelne frühere Studien und auch Reviews nahegelegt hätten.