100 Prozent wirksam zum Schutz vor HIV |
Annette Rößler |
24.07.2024 16:22 Uhr |
Ein Impfstoff gegen HIV ist nach vielen Rückschlägen leider noch nicht in Sicht, aber eine Präexpositionsprophylaxe (PrEP), die nur zweimal jährlich subkutan gespritzt wird, könnte eine Alternative werden. / Foto: Adobe Stock/wladimir1804
Die Präsentation der Ergebnisse der PURPOSE-1-Studie durch Professor Dr. Linda-Gail Bekker vom Desmond Tutu HIV Centre in Kapstadt, Südafrika, wurde als eines der Highlights des Welt-Aids-Kongresses angekündigt, der zurzeit in München stattfindet. Bekker selbst nannte die Ergebnisse »besser als wunderbar«; das in der Studie getestete Lenacapavir setze neue Maßstäbe, wenn es um die Wirksamkeit der Präexpositionsprophylaxe (PrEP) gehe.
Lenacapavir (Sunlenca®, Gilead) ist der erste Vertreter der neuen Wirkstoffklasse der Kapsid-Inhibitoren. Es ist in Europa bereits zur Behandlung der HIV-Infektion zugelassen, aber in Deutschland noch nicht auf dem Markt. Gegenüber anderen HIV-Therapeutika zeichnet sich Lenacapavir durch eine besonders lange Halbwertszeit aus, die eine Anwendung als subkutane Injektion alle sechs Monate ermöglicht. Dies macht den Wirkstoff auch zu einem geeigneten Kandidaten für eine PrEP.
PURPOSE 1 war eine randomisierte, doppelblinde und aktiv kontrollierte Studie der Phase III, die an insgesamt 28 Studienzentren in Südafrika und Uganda durchgeführt wurde. Die HIV-Inzidenz in den betroffenen Gebieten ist hoch: Bei jungen Frauen, die keine PrEP erhalten, lag sie laut Bekker in Studien zuvor bei mindestens 3 Prozent. In die PURPOSE-1-Studie eingeschlossen waren insgesamt 5338 sexuell aktive Cis-Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die zu Beginn der Studie HIV-negativ waren.
Sie erhielten im Randomisierungsverhältnis 2:2:1 entweder Lenacapavir, Emtricitabin/Tenofoviralafenamid (F/TAF) oder Emtricitabin/Tenofovirdisoproxilfumarat (F/TDF). Lenacapavir wurde nach einer Loading-Dose von jeweils 300 mg, die in Tablettenform oral an den Tagen 1 und 2 verabreicht wurde, mit 927 mg als subkutane Injektion alle 26 Wochen gegeben. Die beiden anderen Regimen stellten die aktiven Kontrollen dar und bestanden aus einmal täglich anzuwendenden Tabletten mit 200 mg Emtricitabin/25 mg TAF beziehungsweise 200 mg Emtricitabin/300 mg TDF. Alle Probandinnen erhielten jeweils passende Placebo-Injektionen beziehungsweise -Tabletten.
Eine geplante Zwischenauswertung fand im Mai dieses Jahres statt, als die Hälfte der Studienkohorte die 52. Woche nach der Randomisierung erreicht hatte. Deren Ergebnisse, die Hersteller Gilead vor wenigen Wochen bereits per Pressemitteilung bekannt gemacht hatte und die parallel zu Bekkers Präsentation in München im »New England Journal of Medicine« veröffentlicht wurden, waren so überzeugend, dass die Studie vorzeitig abgebrochen und allen Teilnehmerinnen eine Fortsetzung der PrEP mit Lenacapavir angeboten wurde.
Insgesamt hatten sich während des Studienzeitraums 55 Frauen mit HIV infiziert; 39 von 2136 in der F/TAF-Gruppe (2,02 pro 100 Personenjahre), 16 von 1068 in der F/TDF-Gruppe (1,69 pro 100 Personenjahre) und keine einzige in der Lenacapavir-Gruppe. Die Hintergrund-Inzidenz in der gescreenten Population (8094 Personen) lag bei 2,41 Infektionen pro 100 Personenjahren. Damit war die Wirksamkeit der F/TAF-PrEP statistisch nicht signifikant, während diejenige der F/TDF-PrEP zwar statistisch signifikant, aber nicht bedeutsam war.
Die Ursache dafür lag in der schlechten Adhärenz zu beiden oralen Therapieregimen. Wie Bekker informierte, wurden bei einer Stichprobe von 10 Prozent der Teilnehmerinnen regelmäßig Blutproben genommen, um den Tenofovir-Spiegel zu bestimmen. Anhand dieser Tests konnten die Forschenden feststellen, dass nur eine Minderheit der Probandinnen die Tabletten tatsächlich regelmäßig einnahmen. So betrug der Anteil derjenigen, die weniger als zwei Tabletten pro Woche schluckten, in der F/TAF-Gruppe in Woche 8 bereits 34 Prozent und stieg im Verlauf noch an auf schließlich 84 Prozent in Woche 52. In der F/TDF-Gruppe waren die Werte mit 50 Prozent Quasi-Non-Adhärenz in Woche 8 und schließlich 93 Prozent in Woche 52 sogar noch schlechter.
Alle drei Therapieregimen wurden gut vertragen. In der Lenacapavir-Gruppe traten Reaktionen an der Injektionsstelle allerdings mit 68,8 Prozent häufiger auf als in den anderen beiden Gruppen, in denen die Probandinnen lediglich Placebo-Injektionen erhielten (34,9 Prozent). Das Injektionsvolumen von Sunlenca beträgt 1,5 ml. »Nach der Injektion bildet sich unter der Haut ein Depot, das unter Umständen tastbar, aber nicht sichtbar ist und im Laufe der Zeit kleiner wird«, berichtete Bekker. Die Reaktionen an der Injektionsstelle seien bei wiederholter Anwendung geringer geworden – ein Phänomen, das bereits von anderen HIV-Therapeutika, die gespritzt werden, bekannt sei.
Derzeit laufen noch weitere Studien des PURPOSE-Programms, in denen die Effektivität und Sicherheit der Lenacapavir-PrEP in verschiedenen Populationen getestet wird. Sobald die – erhofft positiven – Ergebnisse der PURPOSE-2-Studie vorliegen, an der homosexuelle Männer sowie Transgender-Männer und -Frauen teilnehmen, will Hersteller Gilead die Zulassungerweiterung seines Präparates für die PrEP beantragen. Angesichts der »enttäuschend niedrigen« Adhärenz zur oralen PrEP sei die Sechs-Monats-Spritze eine dringend benötigte Alternative, so Bekker.
Doch warum war die Adhärenz in dieser Studie so niedrig? Viele Frauen hätten die Größe der Tabletten beklagt, berichtete Bekker. Descovy®, die F/TAF-Tablette, hat eine Abmessung von 12,5 mm × 6,4 mm, Truvada®, die F/TDF-Tablette, ist mit 19 mm x 8,5 mm sogar noch größer. Das werde offenbar vor allem von jungen Frauen in Afrika als problematisch eingestuft, so Bekker. Es sei wichtig, dies zu berücksichtigen, um eine PrEP anbieten zu können, die auch angenommen werde.
Auch Professor Dr. Sharon Lewin, der Präsident der internationalen Aids-Gesellschaft IAS, bezeichnete die Lenacapavir-PrEP als »Durchbruch« und betonte, dass sie die HIV-Prävention weltweit verbessern könne. Voraussetzung sei jedoch, dass sie erschwinglich und möglichst rasch für alle verfügbar werde, die sie wünschen.
Noch bevor Lenacapavir als PrEP zugelassen und somit außerhalb von Studien verfügbar ist, gibt es bereits eine Diskussion um den Preis. Es wird befürchtet, dass das Mittel für Kostenträger in Niedrigeinkommensländern zu teuer sein wird. Mehr als 300 Aktivistinnen und Aktivisten sowie Forschende im Bereich HIV haben sich deshalb mit einem offenen Brief an Hersteller Gilead gewandt und zur Mäßigung bei der Preisgestaltung aufgerufen. Nach Angaben der Organisation »Ärzte ohne Grenzen«, die sich hinter die Aktion stellt, sei der »derzeit verlangte Preis für Lenacapavir etwa 1000-mal höher als er für einen profitablen Vertrieb des Mittels sein müsste.«
Als Jahrestherapiekosten für Lenacapavir ist die Rede von derzeit circa 40.000 US-Dollar (etwa 37.000 Euro). Hersteller Gilead steht diesbezüglich unter Druck; am Rande des Aids-Kongresses gab es sogar entsprechende Kundgebungen. Bekker sagte bei der Präsentation der Studienergebnisse, dass Gilead ein Programm zur freiwilligen Lizenzvergabe an potenzielle Generikahersteller entwickele. Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa sagte Professor Dr. Jared Baeten, Senior-Vizepräsident für klinische Entwicklung bei Gilead, der genannte Preis betreffe nur bestimmte Patienten und werde nicht für die künftige Prophylaxe gelten.