Zwist um Sonderstellung von Orphan Drugs |
Annette Rößler |
09.01.2025 18:00 Uhr |
Für Hersteller ist es oft nicht einfach, zu belegen, dass ihr Präparat gegenüber bereits verfügbaren Therapieoptionen einen Fortschritt darstellt. Bei Orphan Drugs müssen sie das gar nicht. / © Adobe Stock/BillionPhotos.com
Orphan Drugs sind Medikamente zur Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen. Da ein Orphan Drug also per se kein Blockbuster werden kann, gibt es Anreize für Hersteller, trotzdem solche Mittel zu entwickeln. So müssen sie etwa in Deutschland keine normale Nutzenbewertung durchlaufen, sondern ihr Zusatznutzen gilt mit der EU-Zulassung als belegt.
Erst wenn der Jahresumsatz mit dem Medikament einen bestimmten Grenzwert überschreitet, erfolgt eine reguläre Nutzenbewertung durch das IQWiG im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Diese Umsatzschwelle lag zunächst bei 50 Millionen Euro jährlich, wurde mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) 2022 aber auf 30 Millionen Euro gesenkt.
Auch auf EU-Ebene gibt es Vorteile für Hersteller, die ein Orphan Drug auf den Markt bringen wollen. So bietet die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) etwa wissenschaftliche Beratung und Unterstützung beim Erfüllen der Regularien an, gewährt zehn Jahre Marktexklusivität und reduzierte Gebühren.
All diese Anreize sollen die Motivation von Unternehmen steigern, das finanzielle Risiko einzugehen, das mit der Entwicklung eines Orphan Drugs verbunden ist, um so letztlich bestehende therapeutische Lücken (unmet medical needs) zu schließen. Kritiker bemängeln jedoch, dass Hersteller durch verschiedene Tricks für ihr jeweiliges Präparat einen Orphan-Drug-Status schaffen können, den dieses nicht unbedingt verdient hätte – ein Vorgang, der sich mit dem Schlagwort »Orphanisierung« beschreiben lässt.
Das IQWiG sieht daher den steigenden Anteil der Orphan Drugs unter den neu zugelassenen Mitteln schon länger kritisch und stellte bereits 2022 anhand eines eigenen Arbeitspapiers deren Sonderstellung bei der Nutzenbewertung infrage. Es gebe eine Fehlsteuerung bei den Orphan Drugs, lautete damals die Diagnose – das Privileg des generellen Zusatznutzens gehöre abgeschafft. Die hohen Preise, die für diese Medikamente häufig aufgerufen werden, seien nur für jene gerechtfertigt, die einen echten Fortschritt für die Patientenversorgung bringen.
Jetzt legt ein Team von Mitarbeitenden des IQWiG um Philip Kranz im »International Journal of Technology Assessment in Health Care« nach. Die Forschenden untersuchten unter anderem, ob in der jeweiligen Indikation der 89 Orphan Drugs, die zwischen 2011 und 2021 mindestens einmal bewertet worden waren, zuvor tatsächlich ein unmet medical Need bestanden hatte. Dies musste in der Mehrzahl der Fälle verneint werden: Bei mehr als der Hälfte der Präparate (58 Prozent) hatte es zum Zeitpunkt der Bewertung bereits eine verfügbare alternative Therapie gegeben.
Bei den Krebsmedikamenten, die laut IQWiG im Allgemeinen besonders hochpreisig sind, traf dies sogar auf 88 Prozent der Orphan Drugs zu. Hier schwingt eine deutliche Kritik an diesem Zustand mit. Das IQWiG konstatiert zudem, dass onkologische Wirkstoffe unter den Orphan Drugs stark überrepräsentiert seien, während es für viele andere seltene Erkrankungen nach wie vor keine neuen Wirkstoffe gebe. Forschungsinfrastruktur und Förderlandschaft für seltene Erkrankungen müssten verbessert werden, »damit die Entwicklungsanreize in den Indikationen ankommen, in denen sie am dringlichsten benötigt werden«.
Ganz anders schätzt das der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen in Deutschland (vfa) in einer Pressemitteilung ein, die er – bestimmt nicht zufällig – kurz nach Erscheinen der Originalpublikation und noch vor Veröffentlichung der IQWiG-Pressemitteilung herausgab. Der vfa sieht demnach eine »gute Versorgung mit Medikamenten gegen seltene Erkrankungen« und betont, dass sich die besonderen Regeln in der Nutzenbewertung bewährt hätten.
Gäbe es diese nicht, könnten Hersteller mit Orphan Drugs laut vfa unter Umständen nicht genügend Umsatz erwirtschaften: Wenn in einer regulären Nutzenbewertung kein oder allenfalls ein geringer Zusatznutzen für die Präparate festgestellt würde, drohe ein Preisverfall schlimmstenfalls auf Generikaniveau. Dies kann dazu führen, dass Hersteller ihr Präparat wieder vom Markt nehmen. Ein sehr hohes Risiko für dieses Szenario habe die Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partner im Rahmen einer Studie im Auftrag des vfa für 57 Prozent der Orphan Drugs ausgemacht.
Wer den Sonderstatus der Orphan Drugs bei der Nutzenbewertung infrage stelle, setze die Verfügbarkeit dieser dringend benötigten Medikamente aufs Spiel, argumentiert der vfa. Dies übersieht freilich, dass es dem IQWiG zumindest mit der aktuellen Publikation laut eigenem Bekunden um eine bessere Steuerung der Förderung geht. Denn die implizite Kritik des Instituts richtet sich dieses Mal nicht generell gegen die Priviligierung bei der Nutzenbewertung, sondern die Tatsache, dass diese womöglich häufig ungerechtfertigterweise in Anspruch genommen wird.