Zweifel am Behandlungsstandard |
Theo Dingermann |
08.01.2024 11:30 Uhr |
Ein Hörsturz tritt meist einseitig auf und hat keine erkennbare Ursache. Häufig geht der Hörverlust mit einem Tinnitus und gelegentlich auch mit Schwindel einher. / Foto: Adobe Stock/Peakstock
Bei einem plötzlichen Hörverlust, bei dem oft nur ein Ohr betroffen ist und der vielfach mit einem quälenden Tinnitus einhergeht, empfiehlt die S1-Leitlinie »Hörsturz« der DGHNO-KHC (Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie) als Mittel der Wahl hohe Dosen systemischer Glucocorticoide einzusetzen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Wirkstoffe den beabsichtigten Wirkort im Innenohr erreichen. Dieses Vorgehen ist umstritten.
Daher hinterfragten Forschende um Professor Dr. Stefan K. Plontke von der Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie in Halle im Rahmen einer groß angelegten deutschlandweiten randomisierten kontrollierten Studie den Einsatz hoher Glucocorticoid-Dosen. Die Ergebnisse wurden jetzt im Fachjournal »NEJM Evidence« publiziert.
An der HODOKORT-Studie nahmen 325 Patienten aus 39 Standorten in Deutschland teil, die einen plötzlichen Hörverlust von mehr als oder gleich 50 Dezibel (dB) erlitten hatten. Sie wurden innerhalb von sieben Tagen randomisiert einer von drei Behandlungsgruppen zugeteilt. Die Patienten der ersten Gruppe erhielten fünf Tage 250 mg/Tag Prednisolon intravenös und für zehn Tage Placebo oral; die in der zweiten Gruppe fünf Tage lang 40 mg/Tag Dexamethason oral und weitere fünf Tage Placebo sowie für fünf Tage Placebo intravenös. Beide Hochdosistherapien stellen den Standard in Deutschland dar. Als Kontrolle diente eine dritte Gruppe, die die internationale Standardtherapie erhielt: fünf Tage lang 60 mg/Tag Prednisolon oral und für weitere fünf Tage eine ausschleichende Dosis sowie fünf Tage Placebo intravenös.
Als primärer Endpunkt war die Veränderung der Hörschwelle (Reintonmittelwert) in den drei am stärksten betroffenen zusammenhängenden Frequenzen vom Ausgangswert bis zum Tag 30 festgelegt worden. Zu den sekundären Endpunkten gehörten Sprachverständnis, Tinnitus, Kommunikationsfähigkeit, Lebensqualität, Bluthochdruck und Insulinresistenz.
Die durchschnittliche Veränderung der am stärksten beeinträchtigten Hörschwelle vom Ausgangswert bis zum 30. Tag betrug 34,2 dB in der Hochdosis-Prednisolon-Gruppe, 41,4 dB in der Hochdosis-Dexamethason-Gruppe und 41,0 dB in der Prednisolon-Kontrollgruppe. In den beiden Hochdosis-Gruppen traten mehr unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang mit der Studienmedikation auf als in der Kontrollgruppe.
»Eine höhere Dosis von Glucocorticoiden führte im Vergleich zur Standardtherapie nicht zu besseren Ergebnissen. Allerdings traten unerwünschte Ereignisse häufiger auf. Dazu gehörten erhöhte Blutzuckerwerte oder ein Anstieg des Blutdrucks bei Bluthochdruck-Patienten«, sagt Plontke in einer Pressemitteilung der Universitätsmedizin Halle.
Die Ergebnisse lassen nicht nur Zweifel an der Wirksamkeit einer Therapie mit hohen Glucocorticoid-Dosen, sondern auch an der Standardbehandlung selbst aufkommen. Trotz einer sofortigen Behandlung mit Glucocorticoiden blieben die Symptome bei der Mehrheit der Patienten in allen Gruppen bestehen. Selbst in der Gruppe mit der Standardtherapie, die nach 30 Tagen die besten Ergebnisse erzielte, hätten sich 60 Prozent der Patienten noch nicht vollständig erholt, so der Studienleiter. Obwohl diese Medikamente seit 50 Jahren weltweit in der Hörsturz-Erstbehandlung zum Einsatz kämen, gebe es keinen belastbaren wissenschaftlichen Beweis für die Wirksamkeit. Ob eine Therapie mit Glucocorticoiden wirksam, unwirksam oder schlechter als Placebo sei, müsse nun in einer Folgestudie untersucht werden.