Zusatznutzen auch bei Orphan Drugs nachweisen |
Die Zahl neu zugelassener Orphan Drugs hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Experten des IQWiG halten es für notwendig, auch bei diesen Präparaten den Zusatznutzen zu belegen. / Foto: ©Eisenhans - stock.adobe.com
Seit 2011 ist das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der Gesetzlichen Krankenversicherung (AMNOG) in Kraft. Seitdem müssen die Hersteller neuer Arzneimittel nachweisen, dass ihr Medikament einen Zusatznutzen im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie aufweist. Diese Regelung gilt allerdings nicht für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen, solange diese eine bestimmte Umsatzschwelle nicht überschritten haben. Mit diesem sogenannten fiktiven Zusatznutzen soll ein Anreiz für die Pharmaunternehmen gesetzt werden, auch Arzneimittel für einen kleinen Patientenkreis auf den Markt zu bringen. Die Umsatzschwelle setzte der Gesetzgeber mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das seit November 2022 in Kraft ist, von 50 auf 30 Millionen Euro herab. Wenn Unternehmen diese Schwelle mit 30 Millionen Euro überschreiten, werden ihre Präparate in der Preisbildung wie normale Arzneimittel bewertet.
Nun haben ein Team um Philip Kranz, Natalie McGauran und Thomas Kaiser vom IQWiG zusammen mit Rita Banzi vom italienischen Mario-Negri-Institut einen Fachartikel in einer Publikation des Bundesjustizministeriums veröffentlicht. Darin sind sie laut IQWiG der Frage nachgegangen, ob die Annahme eines fiktiven Zusatznutzens bei Orphan Drugs gerechtfertigt ist. In dem Beitrag kommen sie demnach zum Ergebnis, dass »wir es oft nicht wissen«, ob die neuen Arzneimittel gegen seltene Leiden besser sind als existierende Behandlungsformen. Das Fazit der Autorinnen und Autoren: »Das Label, wonach Arzneimittel gegen seltene Krankheiten einen realen therapeutischen Zusatznutzen aufweisen, sollte nur auf der Grundlage solider Nachweise, sprich robuster Evidenz, erteilt und vom Zulassungsprozess vollständig entkoppelt werden«, heißt es in der Mitteilung vom 10. Mai. Dies würde Anreize dafür schaffen, die Überlegenheit des neuen Wirkstoffs im Vergleich zum Therapiestandard frühzeitig nachzuweisen und letztlich die Behandlungsergebnisse der Patienten verbessern.
Auswertungen des Instituts hätten gezeigt, dass auch bei Orphan Drugs die Generierung solider Daten durch randomisierte kontrollierte Studien möglich sei. Die IQWiG-Experten schlagen vor, internationale Register für seltene Erkrankungen aufzubauen, um die Datenlage zu verbessern. Unsicherheiten durch kleine Studienpopulationen könne man mit statistischen Methoden begegnen. IQWiG-Leiter Thomas Kaiser kritisiert, dass derzeit vor allem die spätere Kostenerstattung von Orphan Drugs gefördert werde. »Weit wichtiger ist jedoch, die frühzeitige Generierung aussagekräftiger Studienergebnisse zu unterstützen«, betont Kaiser.
Der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI) warnt hingegen in einer Ende Februar veröffentlichten Pressemitteilung davor, die Sonderstellung der Orphan Drugs im AMNOG abzuschaffen. Da die betroffenen Patientengruppen klein seien, müssten preispolitische Anreizstrukturen richtig gesetzt sein, damit pharmazeutische Unternehmen spezielle Therapien auch für nur wenige Patientinnen und Patienten entwickeln könnten. Diese hätten das gleiche Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung wie Menschen mit häufigen Erkrankungen. »Eine geeignete Gesetzgebung auf nationaler sowie europäischer Ebene ist daher auch Ausdruck des politischen Willens, Menschen mit seltenen Erkrankungen adäquat zu versorgen«, so der BPI.
Laut IQWiG hat die Zahl der Orphan Drugs seit der Einführung der EU-Verordnung neu zugelassenen Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen im Jahr 2000 stark zugenommen. Wurden im ersten Jahrzehnt nach der EU-Verordnung 63 Orphan Drugs zugelassen, stieg ihre Zahl demnach im zweiten Jahrzehnt auf 133. Allein im vergangenen Jahr hätten 22 Wirkstoffe gegen seltene Erkrankungen die Marktzulassung erhalten. Nach Angaben des Instituts leben in der Europäischen Union 30 Millionen Menschen, die an mehr als 6000 verschiedenen seltenen Erkrankungen leiden.