Zielgerichtet gegen Schmerzkrisen |
Kerstin A. Gräfe |
07.01.2021 07:00 Uhr |
Typischer Befund bei Sichelzellerkrankung: Die Erythrozyten sind zu einer Sichelform deformiert. / Foto: CDC
Die Sichelzellkrankheit (Sickle Cell Disease, SCD) ist eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung der Hämoglobinsynthese. In Deutschland leben zurzeit 2000 bis 3000 SCD-Patienten. Ursache ist eine Punktmutation, die dazu führt, dass anstelle des physiologischen Hämoglobins (HbA) Sichelzellhämoglobin (HbS) gebildet wird. HbS polymerisiert bei Sauerstoffmangel und zwingt die Erythrozyten in eine starre Sichelform, die der Erkrankung ihren Namen gibt.
Eine Schlüsselrolle in der Pathogenese spielt das Zelladhäsionsprotein P-Selektin, das bei SCD vermehrt auf Gefäßendothelzellen und Thrombozyten exprimiert wird. Es bindet an P-Selektin-Glykoprotein-Ligand-1 (PSGL-1) auf Leukozyten sowie an PSGL-1-like-Rezeptoren auf Sichelzellen. Das Zusammenspiel aus sperrigen Erythrozyten und gesteigerter Interaktion zwischen den Zellen untereinander und mit dem Endothel führt zu Gefäßverschlüssen, den vasookklusiven Krisen (VOC), die sehr schmerzhaft und komplikationsträchtig sind. Die Gefäßokklusionen können in allen Organen auftreten und zu dauerhaften Organschäden bis zum Tod führen.
Der neue Antikörper Crizanlizumab (Adakveo® 10 mg/ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Novartis) ist die erste zielgerichtete Therapie zur Vorbeugung von wiederkehrenden VOC. Er bindet mit hoher Affinität an P-Selektin und blockiert die Interaktion mit dessen Liganden, einschließlich PSGL-1. Adakveo darf ab 16 Jahren angewendet werden. Crizanlizumab kann als Zusatztherapie zu Hydroxyurea/Hydroxycarbamid (HU/HC) gegeben werden oder als Monotherapie bei Patienten, bei denen die Anwendung von HU/HC nicht geeignet oder unzureichend ist.
Die empfohlene Dosis beträgt 5 mg/kg Körpergewicht, verabreicht über einen Zeitraum von 30 Minuten als intravenöse Infusion. Die ersten beiden Infusionen werden im Abstand von zwei Wochen verabreicht. Nachfolgende Infusionen werden alle vier Wochen verabreicht.
In den Studien wurden unter Crizanlizumab infusionsbedingte Reaktionen beobachtet. Die Patienten sind auf Anzeichen und Symptome wie Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, Ermüdung, Schwindelgefühl, Pruritus, Urtikaria, Schwitzen, Kurzatmigkeit oder Giemen zu überwachen. Im Fall einer schweren Reaktion sollte Crizanlizumab abgesetzt und eine geeignete Therapie eingeleitet werden.
Crizanlizumab kann womöglich bestimmte Laboruntersuchungen beeinträchtigen. So führte die Gabe des Antikörpers bei der Bestimmung der Thrombozytenzahl zu nicht auswertbaren oder fälschlicherweise erniedrigten Thrombozytenzahlen, vor allem wenn EDTA-Röhrchen verwendet wurden. Laut Fachinformation sollte die Untersuchung daher so schnell wie möglich durchgeführt werden (innerhalb von vier Stunden nach Blutprobenentnahme) oder Citrat-Röhrchen verwendet werden. Zudem kann die Thrombozytenzahl mittels eines peripheren Blutausstrichs geschätzt werden.
Aus Vorsichtsgründen sollte die Anwendung von Adakveo während der Schwangerschaft und bei Frauen, die nicht verhüten, vermieden werden. Bei stillenden Frauen entscheidet der Arzt, ob sie das Stillen unterbrechen oder mit der Crizanlizumab-Gabe pausieren.
Die Zulassung basiert auf der doppelblinden, randomisierten, placebokontrollierten Phase-II-Studie SUSTAIN an 198 SCD-Patienten mit zwei bis zehn VOC in den vergangenen zwölf Monaten. Die Probanden wurden gleichmäßig auf 5 mg/kg Körpergewicht Crizanlizumab oder Placebo randomisiert. Die Infusionen erfolgten an Tag 0, Tag 14 und weiter alle vier Wochen bis Woche 50. Dabei wurde Adakveo entweder als Monotherapie oder in Kombination mit HU/HC angewendet. Primärer Endpunkt war die jährliche Anzahl SCD-assoziierter VOC unter Crizanlizumab 5 mg/kg Körpergewicht versus Placebo in Woche 52 sowie die Zeit bis zur ersten beziehungsweise zweiten VOC.
Crizanlizumab konnte die durchschnittliche jährliche VOC-Rate im Vergleich zu Placebo um 45,3 Prozent reduzieren. Sie sank von 2,98 auf 1,63 Ereignisse pro Jahr. Auch der Anteil der Patienten, die im gesamten Studienverlauf frei von VOC blieben, war unter dem Antikörper mehr als doppelt so hoch wie unter Placebo (22 versus 8 Prozent). Der Vorteil für Crizanlizumab war unabhängig von einer begleitenden Therapie mit HU/HC. Die Studie wurde wegen des wirksamen Effekts von Crizanlizumab vorzeitig abgebrochen, um die Therapie für alle Patienten verfügbar zu machen.
Als häufigste Nebenwirkungen traten Arthralgie, Übelkeit, Rückenschmerzen, Fieber und Abdominalschmerz auf. Auch infusionsbedingte Reaktionen sind möglich.
Eine Komplikation der Sichelzellkrankheit sind vasookklusive Krisen (VOC). Sie beeinträchtigen die Lebensqualität der Patienten erheblich und erhöhen ihr Risiko für Organschäden. Crizanlizumab ist eine zielgerichtete Therapie zur Prävention rezidivierender VOC. Der Wirkmechanismus ist innovativ. Crizanlizumab bindet an das Zelladhäsionsprotein P-Selektin, das eine zentrale Rolle in der Pathophysiologie der Sichelzellkrankheit spielt. Auch die bisherigen Studienergebnisse rechtfertigen die Einstufung als Sprunginnovation. Die Daten zeigen eine Reduktion der medianen jährlichen VOC-Rate. Im Vergleich zur Placebogruppe blieben im gesamten Studienverlauf viel mehr Patienten komplett frei von VOC. Die Studie wurde sogar vorzeitig abgebrochen, damit auch die Patienten der Placebogruppe mit dem Antikörper behandelt werden konnten.
Sven Siebenand, Chefredakteur