Zahl der Suizide steigt leicht – früh Hilfe anbieten |
Wenn man sich Sorgen macht und Angst hat, jemand überlegt, sich das Leben zu nehmen, sollte man nicht abwarten. Der Hausarzt kann erster Ansprechpartner sein. / Foto: Adobe Stock/Alexander Raths
Im Jahr 2023 sind rund 10.300 Menschen durch Suizide gestorben. Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, stiegen die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr leicht um 1,8 Prozent (10.119). Der Anstieg im Vergleich zum historischen Tiefstand 2019 (rund 9000 Fälle) betrug demnach 14 Prozent. Auch die Suizidrate stieg an: von 12,1 je 100.000 Einwohner im Jahr 2022 (10.100) auf 12,2 im vergangenen Jahr. Am niedrigsten war sie 2019 mit 10,9.
Die Todeszahlen durch Suizide sind laut den Statistikern mehr als dreimal so hoch wie durch Verkehrsunfälle. Im Vergleich zu 2003 ging die Zahl der Suizid-Todesfälle um knapp 8 Prozent zurück (2003: 11.200 Fälle). Gegenüber 1980 (18.500) nahm die Zahl um 44 Prozent ab.
Die Entwicklung weist je nach Altersgruppe laut Bundesamt Unterschiede auf: Die Zahl unter jungen Menschen ging etwas zurück: Starben 2003 noch gut 700 unter 25-Jährige in Deutschland durch Suizid, so waren es im vergangenen Jahr knapp 500. Noch deutlicher fiel der Rückgang bei den 35- bis 44-Jährigen aus: Bei ihnen halbierte sich die Zahl der Suizide von knapp 2000 im Jahr 2003 auf knapp 1000 im vergangenen Jahr.
Jedes Jahr am 10. September steht der Welttag für Suizidprävention im Zeichen der Aufklärung und Unterstützung für Menschen mit Suizidgedanken.
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Unter älteren Menschen hingegen nahm die Zahl binnen 20 Jahren teilweise deutlich zu. Am stärksten war der Anstieg in der Altersgruppe 85 Jahre und älter: Von 600 im Jahr 2003 auf knapp 1300 im Jahr 2023 hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Die Suizidrate lag in dieser Altersgruppe im Jahr 2023 mit 41,6 also deutlich über der Rate aller Altersgruppen (12,2).
Diese Entwicklungen seien allerdings auch auf demografische Effekte zurückzuführen, hieß es vom Bundesamt, schließlich ist die Zahl der Menschen über 85 durch die Alterung der Gesellschaft generell stark angestiegen. Das zeigt auch der Blick auf die Suizidrate, die 2003 in dieser Altersgruppe mit 44,4 sogar noch höher war als 2023.
Eine weitere mögliche Erklärung für die hohe Suizidrate bei Älteren ist laut Barbara Schneider, Chefärztin an der LVR-Klinik Köln und Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms, »dass die Suizidpräventionsmaßnahmen tatsächlich die jüngeren und mittelalten Menschen besser erreichen als die ältere Gruppe.« Diese mache ihr und ihren Kollegen »wirklich große Sorge«.
Über alle Altersgruppen sind Männer deutlich häufiger betroffen als Frauen. Im Jahr 2023 suizidierten sich in knapp drei Vierteln der Fälle (73 Prozent, 7500) Männer selbst, 2800 Fälle betrafen Frauen. Das Verhältnis sei seit dem Jahr 2003 beinahe unverändert. Nun ist laut der Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms allerdings insbesondere die Zahl der Frauen angestiegen.
Bei den 10- bis unter 25-Jährigen war Suizid im Jahr 2023 die häufigste Todesursache, vor Verkehrsunfällen und Krebs. 18 Prozent aller Todesfälle in diesem Alter waren Suizide. Zum Vergleich: In der Altersgruppe 85 und älter machten sie 0,3 Prozent aller Todesursachen aus.
Bei Suiziden seien immer auch andere Menschen betroffen, sagte die Ärztin und Suizidforscherin Ute Lewitzka. »Mindestens jeden Tag stirbt ein Jugendlicher in Deutschland durch einen Suizid, weil er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat, das ist ganz furchtbar.« Bei Schülerinnen oder Schülern betreffe der Tod neben Eltern und Geschwistern auch oft die ganze Schule.
Bei Suizidalität ist Hilfe möglich und ein Suizid vermeidbar, sagt Professor Dr. Reinhard Lindner, einer der beiden Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro). »Der erste Schritt sollte immer sein: Hol dir Hilfe.« Also nicht alleine in der aussichtslos scheinenden Situation zu bleiben, sondern sich jemandem anzuvertrauen und sprechen über »die eigene Verzweiflung, die so weit geht, dass man sich töten will«.
In den meisten Fällen helfe dies bereits, berichtet der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin. »Tatsächlich wenden sich die allermeisten Menschen, die darüber nachdenken, Suizid zu machen, auf die eine oder andere Weise an andere. Und: Sie machen es dann nicht.« Denn zusammen komme man auf Lösungsoptionen und Verbesserungsmöglichkeiten.
Der Rat des Experten: Wenn es einem sehr schlecht gehe, weil man eine Situation oder ein Problem überhaupt nicht bewältigen kann – etwa weil eine geliebte Person einen verlassen und man das Gefühl hat, ohne diesen Menschen nicht leben zu können – könne man überlegen: Mit wem kann ich darüber reden, auch im eigenen Umfeld, der nicht in Angst oder Stress verfällt, sondern mit mir auf Augenhöhe darüber sprechen kann, warum ich so verzweifelt bin.
Anonyme Gespräche und Beratung bieten Krisen-Hotlines wie die Telefonseelsorge (0800 1110111 oder 0800 1110222) an. Die Anonymität sei oft sehr hilfreich, so Lindner: »Denn ich kann mit dieser einen Person reden und kann ihr Sachen sagen, die ich sonst niemandem sagen würde.« Hausärzte und Psychotherapeuten (Sprechstundentermine unter Telefon 116 117 oder online) kommen natürlich auch infrage, und manchmal könnten auch religiöse Ansprechpartner eine Hilfe sein.
Betroffene bekomme auch über die Notaufnahme oder eine psychiatrische Ambulanz und zu jeder Tages- und Nachtzeit Hilfe und können sich einweisen lassen. Wenn man auf dem Land mit einer eher schlechten Versorgungssituation und wenig Beratungs- und Psychotherapie-Angeboten lebe, empfiehlt Lindner, sich an die Institutsambulanz einer psychiatrischen Klinik zu wenden, »weil man da auf Leute trifft, die etwas von der Lage, in der man ist, verstehen«.
Wenn man sich Sorgen macht und Angst hat, jemand überlegt, sich das Leben zu nehmen, sollte man nicht abwarten. Auch hier gilt: »Der wichtigste Schritt ist, das Gespräch zu suchen«, so Lindner. Dabei sollte man die Situation durchaus konkret ansprechen. »Davor scheuen sich viele. Aber es ist wichtig, etwa nachzufragen: »Geht es dir schlecht? Hast du manchmal das Gefühl, aufgeben zu wollen?«
Dass man durch das Ansprechen die Suizidalität verstärke oder Menschen überhaupt erst auf den Gedanken bringe, ist falsch, so Lindner. »Sondern fast alle suizidalen Menschen haben dadurch das Gefühl: Da will jemand wirklich wissen, was in mir los ist. Und die Suizidalität ist ja da – die wird weder durch Nachfragen hervorgerufen noch geht sie weg dadurch, dass man nichts sagt.«
Die zentrale Botschaft, die vermittelt werden sollte, wenn man die offensichtliche Not und Verzweiflung des anderen anspricht: »Dir geht es schlecht, aber es gibt Hilfe. Du musst nicht alles aushalten. Es muss nicht so bleiben.« Einen Gesprächsleitfaden und Informationen dazu, was man bei so einem Gespräch vermeiden sollte, gibt es etwa bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS).
So könne man anbieten, gemeinsam nach Hilfsangeboten zu suchen, aber auch vorschlagen, zusammen in die Psychiatrie zu fahren, so Lindner. Wenn jemand aber sagt, er bringe sich um: Dann sollte man den Notruf der Polizei unter 110 anrufen, damit die gegebenenfalls die Fahndung auslösen kann, wenn man mit dem Menschen nicht zusammen ist.
Wenn man sieht, dass die Person über lange Zeit sehr verzweifelt und suizidal ist, sollte man immer wieder einmal die eigene Angst formulieren, sagt Lindner. Und etwa sagen: »Du, ich mache mir einfach Sorgen. Ich möchte auch nicht, dass du stirbst.« Auch wenn man nicht davon ausgehen könne, dass es bei allen Betroffenen wirkt, lohne es sich oft, hartnäckig zu sein, erklärt der Experte.