Xylazin auf dem Vormarsch |
Theo Dingermann |
27.06.2023 15:30 Uhr |
In den USA werden Opioide immer häufiger mit dem Stoff Xylazin versetzt – mit verheerenden Folgen für die Süchtigen. / Foto: Getty Images/Spencer Platt
Xylazin ist ein α2-Adrenozeptor-Agonist aus der Gruppe der Thiazinamine. Aufgrund seiner hohen Lipophilie stimuliert Xylazin direkt die zentralen α2-Adrenozeptoren ebenso wie die peripheren Adrenozeptoren in einer Vielzahl von Geweben. Jetzt warnen vor allem amerikanische Behörden vor einer Welle von Missbrauchsfällen, bei denen Drogenabhängige vermehrt mit Xylazin gestreckte Suchtmittel konsumieren – mit katastrophalen Folgen.
Xylazin kann beim Menschen schwere und lebensbedrohliche Nebenwirkungen verursachen, die fatalerweise denen ähneln, die üblicherweise auch bei Opioiden auftreten können. Es ist daher schwierig, eine Opioid-Überdosierung von einer Xylazin-Exposition zu unterscheiden.
In Deutschland ist der Wirkstoff zur Verwendung bei Haus- und Nutztieren als Sedativum und Schmerzmittel zugelassen. Er wird dort als intramuskuläre oder intravenöse Injektion Tieren zur Sedierung und zur Analgesie im Rahmen von Untersuchungen und Behandlungen verabreicht.
Zentral wirkende α2-Agonisten hemmen die Freisetzung von Noradrenalin und Adrenalin, erklären Dr. Rahul Gupta und Kollegen vom Büro für nationale Drogenkontrollpolitik des Weißen Hauses in Washington und der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin der University of Pennsylvania in Philadelphia in einem Perspektiv-Beitrag im »New England Journal of Medicine« (NEJM).
Zu den Wirkungen auf das Zentralnervensystem gehören Sedierung, Analgesie und Euphorie. Ein verringerter sympathischer Abfluss aus dem Zentralnervensystem führt zu einem verringerten peripheren Gefäßwiderstand, einer verringerten Herzfrequenz und einem verringerten Blutdruck.
Für Menschen ist Xylazin nicht zugelassen. Allerdings wird es derzeit in steigendem Maße missbräuchlich eingesetzt. Der auf den Straßen als »Zombie-Droge« oder »Tranq« bezeichnete Stoff hat verheerende Auswirkungen auf Süchtige. Im Netz – unter anderem auch in einem Beitrag der »New York Times« – kursieren mittlerweile grausame Bilder, die Konsumenten dieser Droge zeigen.
Der missbräuchliche Einsatz von Xylazin ist nicht neu. In mehr als 90 Prozent der im Jahr 2021 in Philadelphia getesteten illegalen Drogenproben wurde der Stoff gefunden. Zudem wurde in forensisch-toxikologischen Proben, die in den USA im Juni 2021 getestet wurden, mit Xylazin versetzte Drogenproben aus 36 von 49 US-Staaten identifiziert. Nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention stieg die geschätzte Zahl der Todesfälle in den Vereinigten Staaten durch Drogen, die mit Xylazin verunreinigt waren, von 260 im Jahr 2018 auf 3480 im Jahr 2021. Dies entspricht einem Anstieg von 1238 Prozent.
Besorgniserregend ist, dass bei der Injektion Xylazin-haltiger Drogen an der Injektionsstelle schwere Hautverletzungen sowie ein Abfaulen und Absterben von Körpergewebe auftreten können. Die Wunden unterscheiden sich von den Wunden, die man bei Drogenkonsumenten häufig sieht. Die Gewebeschäden können unabhängig von der Art der Anwendung an oder entfernt von der Injektionsstelle auftreten. Ihre Pathophysiologie ist unklar und wahrscheinlich multifaktoriell. Diese Wunden können sich leicht infizieren und führen unbehandelt oft zu Amputationen.
In routinemäßigen toxikologischen Untersuchungen wird Xylazin nicht nachgewiesen und die Wirkung kann nicht durch Naloxon antagonisiert werden. Derzeit stehen nur begrenzte Daten zur Verfügung, die als Leitfaden für die klinische Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit einer Behandlung von Xylazin- Entzugserscheinungen im stationären Bereich dienen. Geprüft werden der Einsatz von Dexmedetomidin-Infusionen bei Xylazin-Entzugssymptomen auf der Intensivstation oder die Gabe von Clonidin und Lofexidin. Lofexidin scheint im Vergleich zu Clonidin besser verträglich zu sein. Xylazin-Entzugssymptome werden durch die Gabe von Opioiden nicht gelindert.
In einer Pressemitteilung hatte die FDA Ende Februar dieses Jahres vor den Gefahren gewarnt, die von Xylazin ausgehen. Sie kündigte an, ihren Kampf gegen den illegalen Import des Tierarzneimittels zu verstärken. »Wir werden weiterhin alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen und mit der Drug Enforcement Administration und anderen Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden sowie Interessengruppen zusammenarbeiten, um diese illegalen Aktivitäten einzudämmen und die öffentliche Gesundheit zu schützen«, wird der FDA Commissioner Dr. Robert M. Califf in dieser Mitteilung zitiert.
Zudem erklärte das Büro für nationale Drogenkontrollpolitik des Weißen Hauses am 12. April 2023 Xylazin und insbesondere mit Xylazin gestrecktes Fentanyl (FAAX) zu einer aufkommenden Bedrohung. Diese Erklärung löste in den USA die Entwicklung eines Reaktionsplans für neu auftretende Bedrohungen aus. Der Schwerpunkt liegt auf Tests, Behandlung, Schadensminimierung und umfassender Datenerfassung sowie auf Analysen, Quellenidentifizierung und Angebotsreduzierung.