Wirtschaft & Handel
Im letzten Jahr war Hoechst Marion Roussel (HMR) häufiger
Gegenstand von Schlagzeilen und Kommentaren, unter anderen von
Hochschullehrern aus dem pharmazeutischen Bereich. Es wurde befürchtet,
daß überproportional viele Stellen, insbesondere in der Forschung und
Entwicklung in Deutschland abgebaut werden sollten. Inzwischen ist es in
der öffentlichen Diskussion ruhiger um HMR geworden. Grund für die
Pharmazeutische Zeitung, beim Geschäftsführer von Hoechst Marion
Roussel GmbH Deutschland, Herr Dr. Heinz-Werner Meier, nachzufragen.
PZ: Herr Dr. Meier, ist die Umstrukturierung der HMR Deutschland GmbH
nun abgeschlossen, und konnte der große Abbau der Stellen in Frankfurt,
immerhin waren 600 Stellen im Forschungs- und Entwicklungsbereich im
Gespräch, abgewendet werden?
Deutschland ist nach wie vor der größte F&E-Standort
Meier: HMR Deutschland hat seine Forschung und Entwicklung am Standort
Frankfurt am Main nicht abgebaut, sondern umstrukturiert. Es hat zwar etwa 200
Stellenstreichungen gegeben, die aber Folge des innerbetrieblichen Strukturwandels
waren und nicht zu Entlassungen geführt haben. Ein Indiz für Sie mag sein, daß das
jährliche Budget von 700 Millionen DM, die HMR Deutschland für Forschung und
Entwicklung am Standort ausgibt, auch für die Zukunft gesichert ist. Wir werden also
keinen Rückgang des Budgets haben, sondern eine andere Organisation. Wir haben
die Forschung und Entwicklung prozeßorientiert strukturiert, so daß in der Zukunft
kleinere Gruppen entlang des Entwicklungsprozesses vernetzt, auch mit
Universitäten zusammenarbeiten. Das Ziel war, neue Technologien mit hohen
Investitionen flächendeckend einzuführen und dabei die Strukturen und
Arbeitsabläufe schneller und effektiver zu machen.
Niemand hat deshalb die Firma verlassen müssen, wir haben den Mitarbeitern in
unserem Unternehmen adäquate Arbeitsplätze angeboten. Charakteristischerweise
wurde die Stimmung am Standort schlagartig besser, als wir zusätzlich einen
langfristigen Standortsicherungsvertrag mit einer Beschäftigungs- und
Ausbildungsgarantie abgeschlossen haben. Dies fiel uns nicht schwer, weil wir den
Standort Frankfurt sowieso nie aufgeben würden. Auch in der Zukunft werden wir
über 6000 Arbeitsplätze am Standort Frankfurt haben. Wir sind nach wie vor bei
HMR weltweit der größte Forschungs- und Entwicklungsstandort, wir sind der
größte Produktions- und Fertigungsstandort. Es hat sich also nichts geändert, außer
daß Forschung und Entwicklung in ihren Abläufen völlig umstrukturiert wurden bei
gleichbleibend hohem Budget und Investitionsvolumen.
PZ: Bleiben wir bei den F&E-Bereichen. Hoechst wurde in der Vergangenheit
immer nachgesagt, daß sie sich im Forschungsbereich zu sehr verzettelte. Ist
mit der Umstrukturierung der HMR eine Konzentrierung der
Forschungsvorhaben verbunden?
Meier: Das ist in der Tat richtig, was Sie sagen. Es hat eine deutliche Fokussierung
auf die wichtigen Indikationsgebiete und Projekte gegeben, allerdings nicht im Sinne
des Kosteneinsparens, sondern einer Umverteilung der Mittel. Das Ergebnis war
eine neue Prioritätenliste, angefangen mit früheren Forschungprojekten bis hin zu den
Projekten aus späteren Entwicklungsphasen, die in den nächsten zwei, drei Jahren in
den Markt gehen und da sieht es bei Hoechst ja zur Zeit ganz gut aus. Gleichzeitig
gibt es einen Paradigmenwechsel, der so aussieht, daß wir verstärkt vom Ziel her
anfangen zu forschen, ganz verstärkt Biotechnologie, Kombinatorische Chemie und
andere moderne Techniken einsetzen und organisatorisch für schnellere Abläufe
sorgen. Die weltweite Vernetzung unserer Projekte spielt dabei eine wichtige Rolle.
PZ: Ist damit eine Aufgabenteilung zwischen Industrie und Hochschule
verbunden? Hoechst war immer bekannt dafür, daß auch
Grundlagenforschung betrieben wurde. Dieser Paradigmenwechsel würde
keinen Platz mehr für Grundlagenforschung zulassen?
Meier: So würde ich es nicht sehen. Es gibt sicher wichtige Gebiete, wo wir auch
weiterhin Grundlagenforschung betreiben. Andererseits kann unsere gesellschaftliche
Aufgabe nicht ausschließlich in der reinen Grundlagenforschung liegen. Wir haben
die Aufgabe, möglichst schnell neue effektive Arzneimittel für den Patienten in den
Markt zu bringen. Natürlich bedeutet das, daß wir mit Kooperationspartnern
insbesondere aus den Hochschulen zusammenarbeiten, das heißt, daß wir uns
Ergebnisse auch von außen holen oder wir in vernetzten Strukturen tätig sind. Ein
aktuelles Beispiel von vielen bei uns ist das Forschungsgebiet Osteoarthrose, bei
dem unter unserer Leitung ein Forschungsverbund aus kleineren Unternehmen,
Universitäten, Kliniken und Forschungseinrichtungen ein anspruchsvolles
Gentechnologie-Thema bearbeitet.
PZ: Nach 14 Jahren darf die gentechnologische Insulinanlage am Standort
Frankfurt endlich produzieren. Kann man daraus ableiten, daß für HMR
Biotechnologie ein Schwerpunkt in Forschung und Entwicklung werden wird?
Meier: Ohne Biotechnologie läuft bei uns nichts mehr. Ich würde aber hier einen
Unterschied machen. Die Insulinanlage ist eine typische Produktionsanlage, die
veränderte E-coli-Bakterien ausnutzt, um Insulin herzustellen. Wir sind natürlich froh,
daß wir nach 14 Jahren noch am Ball geblieben sind. Das ist aber nur die
produzierende Seite der Gentechnologie. Interessanter ist es, die Mechanismen in
den Zellen vom Gen ausgehend bis zu den Proteinen mittels biotechnologischer
Methoden zu verstehen, um danach mit häufig durchaus konservativen chemischen
Methoden kleine Moleküle zu entwickeln, die in diese Mechanismen eingreifen
können. Gentechnologie ist vor allem ein Werkzeug, um Mechanismen von
Krankheiten zu verstehen und Targets zu finden, die als Zielpunkte für die
Arzneimittelentwicklung eingesetzt werden können. Um noch einmal Ihre Frage
aufzunehmen, die Gentechnologie wird in Frankfurt in fast jedem Labor in Zukunft
eine Rolle spielen, weil sie einfach als Mittel zum Verständnis der
Krankheitsprozesse eingesetzt wird. Insofern ist Gentechnologie eine neue
Wissenschaft, ohne die Arzneimittelforschung nicht mehr betrieben werden kann.
Die Zusammenarbeit mit Universitäten und Biotechnologiefirmen werden wir dabei
weiter gezielt ausbauen.
PZ: Nun zur wirtschaftlichen Situation von HMR. Mitte August wurde in
London das Ergebnis des zweiten Quartals 1998 vorgestellt. Ohne auf die
Zahlen näher einzugehen, das Ergebnis kann Sie sicher nicht zufriedenstellen?
Können Sie unseren Lesern die Hintergründe erklären? Welchen Anteil hat
HMR Deutschland an diesem Ergebnis?
Meier: Zunächst zu dem weltweiten HMR-Ergebnis: Es ist richtig, daß das
vergleichbare Betriebsergebnis momentan nicht so berauschend war. Ein Grund
dafür liegt in den weltweiten Umsatzrückgängen bei älteren Produkten wie Seldane,
Cardiazem und Trental. Außerdem haben wir in Japan, wo HMR stärker als andere
Unternehmen vertreten ist, einen dreifach negativen Effekt: Die Konjunktur geht dort
dramatisch zurück. Dazu kommt, daß der Verbrauch an Arzneimitteln in Japan
rückläufig ist und dann kam noch die Rücknahme von Hextol - einem wichtigen
Produkt von uns in Japan - hinzu. Dafür haben weltweit alle neuen Produkte von
HMR enorm zugelegt.
Ich bin überzeugt, daß unsere Firma an den neuen, innovativen Produkten gemessen
werden wird, die sie herausbringen kann. Man sollte also nicht kurzfristig auf das
Ergebnis schauen, ob es in einem Quartal positiv oder negativ auffällt. Wir werden
unser Planergebnis für 1998 erreichen. Es ist kein Geheimnis, daß das Geschäft in
Europa und Amerika gut läuft und wir deshalb den Ausfall in Japan kompensieren
können. 1998 wird für HMR international sicher kein Wachstumsjahr, aber wir
werden die Position halten können. Wichtiger ist, was wir in der Pipeline haben, und
die wird heute wesentlich positiver beurteilt. Die ersten Zulassungen stehen an. Die
Trendwende kam schon mit Amaryl, einem inzwischen äußerst erfolgreichen oralen
Antidiabetikum, gefolgt von dem neuen Antihistaminikum Telfast. Dann kam das
neue Antibiotikum Tavanic, das nach wenigen Monaten auf 10 Prozent Marktanteil
zusteuert. Dazu gehört Refludan zur Behandlung von Heparin-assoziierter
Thrombozytopenie, das inzwischen die Zulassung für instabile Angina pectoris
erhalten hat. In den USA ist vor kurzem Arava, unser Leflunomid, zur Behandlung
rheumatischer Arthritis zugelassen worden. In Deutschland erwarten wir die
Zulassung im nächsten Jahr. Damit wird seit über zehn Jahren erstmals wieder eine
neuer Wirkmechanismus für Arthritis angeboten, was weltweit für viele Patienten ein
Fortschritt beziehungsweise eine Hoffnung bedeuten wird, weil die alten Präparate
bei ihnen nicht mehr wirken.
Dann haben wir unser rekombinantes Insulin. Das ist für uns erstmals die Chance, in
den Weltmarkt hineinzugehen, weil wir unbegrenzte Mengen produzieren können.
Mit dem alten Insulin auf Tierbasis konnten wir nur den deutschen Markt versorgen,
was ein großer Nachteil gegenüber Mitanbietern war, die gentechnisch hergestelltes
Insulin hatten. Ferner haben wir ein basales Insulin mit Langzeitwirkung in der späten
Entwicklung, ein Mittel gegen das akute Koronarsyndrom und ein interessantes
Schizophreniepräparat. Sie sehen, es gibt also einen ganzen Korb von Produkten,
die jetzt auf den Markt kommen. Das ist auch der Grund, warum HMR und damit
Hoechst plötzlich anders betrachtet wird.
Um Ihre Frage noch einmal aufzunehmen, wie die Ergebnisse in Deutschland
aussehen, dürfen wir feststellen, daß HMR Deutschland GmbH zur Zeit mit seinem
Umsatz 5 Prozent über dem Vorjahr liegt. Damit liegen wir über dem
Marktwachstum. Der Inlandsmarkt liegt bei 1,4 Milliarden DM, dazu kommt das
etwas größere Exportgeschäft, so daß wir 1998 einen Umsatz von 3,0 Milliarden
DM erwarten. Die Perspektive für HMR in Deutschland ist also sehr gut. Das
Deutschlandgeschäft war niemals der Anlaß dafür, aus ökonomischen Gründen
etwas streichen zu müssen. HMR Deutschland ist kerngesund und wächst.
PZ: Mit der Vorstellung der Ergebnisse in London kam das Gerücht auf,
Hoechst könnte von der Bayer AG übernommen werden. Bayer hat inzwischen
eine Übernahmeabsicht dementiert. Könnten Sie dazu Stellung nehmen?
Meier: Solche Gerüchte, die es im übrigen momentan bei allen Pharmafirmen gibt,
werden natürlich in unserem Hause mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen.
Man muß folgende Verhältnisse sehen: Von der Marktkapitalisierung her ist Hoechst
zu diesem Zeitpunkt ein Unternehmen, das einen Wert von etwa 50 Milliarden DM
hat. Um am Kapitalmarkt eine Fremdübernahme auf die Beine zu stellen, müßte ein
Kaufinteressent mindestens 20 bis 30 Milliarden DM drauflegen, um die
Aktienbesitzer überhaupt zu motivieren, ihre Aktien abzugeben. Das heißt, ein
solches Vorhaben würde im Augenblick etwa 80 Milliarden DM kosten. Das wird
sich eine kaufwillige Firma, egal welche, sicher genau überlegen. Deshalb halten wir
es für relativ unwahrscheinlich, daß so etwas passieren wird.
PZ: Über die Philosophie beziehungsweise Strategie bezüglich der
Innovationen Ihrer Firma haben Sie ausführlich Stellung bezogen. Lassen Sie
mich aber noch eine Frage nachschieben, insbesondere vor dem Hintergrund
sogenannter Lifestyle-Produkte, die zur Zeit die Zeitungen füllen und den
Firmen Börsenkurssteigerungen bringen. Werden Sie da nicht nachdenklich,
oder fragen Sie sich, ob HMR auch in diesem Bereich forschen sollte?
Meier: Wir könnten natürlich versuchen, unser Pentoxifyllin, das Trental, das
ebenfalls durchblutungsfördernde Eigenschaften hat, auch als Lifestyle-Produkt am
Markt zu positionieren. Und in unserem Forschungsprogramm gibt es natürlich
Projekte, zum Beispiel im Bereich Obesitas, die zum Begriff Lifestyle gerechnet
werden könnten. Ich persönlich mag diese Diskussion nicht. Es ist nur schwer
möglich, eine echte Grenze zwischen schweren Erkrankungen und dem sogenannten
Lifestyle-Bereich zu ziehen. Trotzdem wird eine Trennung beider Bereiche
unumgänglich sein. Ein Patient zum Beispiel, der drei Zentner wiegt, weil er eine
schwere Stoffwechselerkrankung hat, hat mit Lifestyle nichts zu tun. Ein solcher
Patient müßte ein entsprechendes Produkt immer von der Kasse erstattet
bekommen. Nimmt man dasselbe Präparat und redet der Öffentlichkeit ein, solche
Pillen nehmen zu müssen, um ein paar Kilo abzunehmen, dann ist das Lifestyle. In
diesem Fall würde ich es absolut ablehnen, daß die Kassen so etwas finanzieren.
Denn dann ist unser Gesundheitswesen nicht mehr finanzierbar. Das geht auch am
gesellschaftlichen Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherung vorbei. Dafür
dürfen Beiträge nicht eingesetzt werden.
PZ-Artikel von Hartmut Morck, Bad Soden
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