Wirtschaft & Handel
Als Teilnehmer eines Hilfstransports der Kirchengemeinde
Fördergersdorf bei Dresden für die ungarische reformierte Gemeinde in
Mukatschewo (beziehungsweise Munkacs) fuhr ich 1996 zweimal über
Österreich und Ungarn nach Transkarpatien. Wir nahmen diese Route mit
einer Reisedauer von 24 Stunden, um komplizierten Zollformalitäten aus
dem Weg zu gehen.
Transkarpatien, ein Teil der Ukraine - etwa so groß wie Sachsen - grenzt im Westen
an die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Moldawien. Die natürliche Grenze zur
restlichen Ukraine ist der Kamm der Karpaten, über den nur zwei Eisenbahnenlinien
und einige schlechte Straßen führen. Bis 1920 war Transkarpatien ein Teil Ungarns,
dann kurze Zeit tschechisches und wieder ungarisches Gebiet. Nach dem zweiten
Weltkrieg wurde Transkarpatien der damaligen Ukrainischen SSR angegliedert.
Mukatschewo ist eine Stadt von rund 100 000 Einwohnern, 15 Prozent sind
Ungarn. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal. Maschinenbau-, Textil-,
Lebensmittel- und Möbelbauindustrie stehen still. Praktisch nichts ist an die Stelle
der völlig zusammengebrochenen Beziehungen innerhalb der Sowjetunion getreten.
Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent, in Wirklichkeit liegt sie aber noch
höher. Arbeit haben eigentlich nur Staatsbedienstete wie Polizisten, Lehrer,
medizinisches Personal. Doch das ist nicht gleich Lohn. Als Lehrer verdient man
beispielsweise 60 Griwnja (etwa 56 DM). Zum Vergleich: Strom, Gas und Wasser
(letzteres nur dreimal täglich je eine Stunde) kosten 70 Griwnja. Rentner bekommen
49 Griwnja monatlich. Für viele Familien ist das das einzige Auskommen.
Arbeitslosenunterstützung gibt es nur kurzfristig, die meisten bekommen nichts. Auch
Kindergeld und Ähnliches gibt es nicht. Es gibt viele Menschen, die nur die Kleider
auf dem Leib besitzen, kein Essen im Haus haben und Miete, Strom et cetera nicht
mehr bezahlen können. Für diese waren auch in erster Linie unsere Hilfsgüter
gedacht.
Bloß nicht krank werden
Ein besonders trauriges Kapitel ist die medizinische Versorgung. Die Behandlung in
den staatlichen Krankenhäusern und Polikliniken ist zwar kostenlos, aber die
Patienten müssen alles mitbringen: Bettwäsche, Essen, Medikamente, Verbandstoffe
und Nahtmaterial. Röntgen ist im gesamten Krankenhaus der reinste Luxus. Die
Verfügbarkeit von Arzneimitteln hat sich etwas gebessert, das Hauptproblem ist der
Preis, denn sämtliche Mittel müssen bar in der Apotheke bezahlt werden. Eine
Krankenkasse gibt es nicht. Man wollte wohl so etwas aufbauen. Genaueres war
hierzu nicht in Erfahrung zu bringen.
Ich nutzte die Gelegenheit, um einige Apotheken zu inspizieren. Auffällig war die
hohe Apothekendichte in der Innenstadt. Innerhalb von 10 Minuten Fußweg konnte
man ein gutes Dutzend erreichen. In der Stadt soll es rund 25 Stück geben. Bei allen
Apotheken gleich: Das gesamte Sortiment wird in Sichtwahl in Glasvitrinen um den
HV-Tisch herum mit Preisangabe präsentiert, und zwar alles - von Mullbinden bis zu
Ampullen mit Antibiotika-Trockensubstanz. Unter den vielen osteuropäischen sowie
russischen und vereinzelt ukrainischen Präparaten entdeckte ich auch etliche mir
bekannte von deutschen Firmen.
Die Inhaber der inzwischen auf zehn Betriebe angewachsenen Privatapotheken
Munkacs sind keine Apotheker. Einer von ihnen fand überhaupt nichts dabei, wozu
auch? Für den Verkauf hat er drei pharmazeutische Angestellte, die mit 100 Griwnja
monatlich Topverdiner sind. Er selbst kümmere sich um das Geschäftliche. Labor
und Rezeptur habe er nicht, das bringe nichts ein. Während die Offizin bei diesem
Inhaber noch einer Apotheke wenigstens ähnlich sah (weitere Räume gibt es
praktisch nicht), ähnelte eine andere Apotheke eher einer Würstchenbude. In einer
weiteren Apotheke erzählte man mir, die Apotheke gehöre zu einer Firma, die in
Transkapatien etwa zehn Apotheken betreibe. Die Preise waren in dieser Apotheke
besonders günstig.
Feste Preise für Arzneimittel gibt es nicht. 30 Filmtabletten Indometacin kosten
zwischen 2,4 Griwnja (auf dem Schwarzmarkt von einer Frau in weißem Kittel unter
der Hand angeboten) und 0,95 Griwnja in einer Kettenapotheke. Bei der
öffentlichen Krankenhausapotheke kostete das Präparat 2,33, in einer staatlichen
Apotheke 1,7 Griwnja. Nach einem Rezept fragte mich niemand.
Mit unserem Freund Albert besuchte ich die staatliche Zentralapotheke. Beim ersten
Anlauf war sie wegen Warenlieferung eine Stunde geschlossen. Die Ware kommt
einmal monatlich aus den Zentrallagern in Kiew. Der Leiter der Zentralapotheke hat
eine Funktion vergleichbar mit dem früheren Kreisapotheker in der DDR. Während
die staatlichen Apotheken sich noch an die alten Gesetze, wie
Apothekenbetriebsordnung, Arzneimittelgesetz, Rezeptpflicht, so weit wie möglich
halten, Rezepturen anfertigen und Substanzen prüfen, nutzen Geschäftemacher den
gesetzesfreien Raum und gründen Privatapotheken und Ketten. Die Preise wurden
mit einem Anfang März 1996 in Kraft getretenen Gesetz zwar festgelegt, aber
niemand hält sich daran, und Kontrollen gibt es nicht. Eine Privatisierung der
staatlichen Apotheken ist zwar vorgesehen, Zeitraum und Modalitäten sind aber
noch völlig unklar. Ob alle Apothekenleiter oder nur einige bevorzugt berücksichtigt
werden, ist ebenso unklar wie die Frage, woher der Interessent so viel Geld
aufbringen soll.
PZ-Artikel von Eckard Schleiermacher, Klingenberg
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