Wie künstliche Intelligenz in der Apotheke nützlich sein kann |
Melanie Höhn |
02.06.2022 18:00 Uhr |
Mit dem Avatar-Projekt soll pharmazeutisches und medizinisches Fachwissen gebündelt werden. / Foto: imago images/Imaginechina-Tuchong
Viele kleine Zettel flattern in einem Glaswürfel herum. Auf ihnen stehen Namen zu Arzneimitteln, Wirkstoffen, Informationen zu Nebenwirkungen oder Indikationen. Jemand schüttelt diesen Würfel und alles ist durcheinander. Was hat das mit Pharmazie zu tun? Für den Apotheker und Informatiker Sascha Langer ziemlich viel: Der Pharmazeut verwendet wissenschaftlich mathematische Algorithmen und schafft es, dass diese Zettel sich »wie von Geisterhand« sortieren, wie er sagt. Heißt konkret: Mit seinem sogenannten »Avatar«-Projekt hat er schon vor zwei Jahren damit begonnen, pharmazeutisches und medizinisches Fachwissen zu bündeln. Seine Idee ist, durch künstliche Intelligenz (KI) pharmazeutisches Wissen neu zu strukturieren und der Apothekerin/dem Apotheker einen Avatar, also eine künstliche Person, zur Seite zu stellen, die sie oder ihn im Alltag mit Fachwissen unterstützt.
Technisch gesehen will der 46-Jährige dieses Wissen in aktuellen Datenstrukturen abbilden und mit Hilfe von KI auswerten. »Es geht zunächst darum, bestimmte Musterdaten bzw. Datenstrukturen zu erzeugen – der Computer verknüpft dann tausende von Begriffen auf eine bestimmte Art und Weise statistisch miteinander«, erklärt Langer. So genannte Wortvektorräume ordnen Wörter einander zu: Nach diesen Prinzipien wird das Fachwissen strukturiert und auf Sachzusammenhänge untersucht. »Danach muss man schauen, welches KI-Modell dazu am besten passt – dann wird es fertig ausprogrammiert«, sagt er. »Ein gutes Modell zu finden, das gut auf diese Daten passt, ist wie die Stecknadel im Heuhaufen zu finden«, so der Apotheker. Man müsse viele Modelle testen und sich intensiv damit beschäftigen.
Eine weitere Technik der Datenauswertung seien sogenannte rekurrente neuronale Netze, um Strukturen über einen zeitlichen Verlauf sichtbar zu machen. »Denken Sie hierbei an den stetigen medizinischen Fortschritt. Wer kann all die Fachartikel lesen und sich all die Neuerungen merken?«, fragt Langer. Rekurrente Neuronale Netze können genau dies, weiß er: »Veränderungen über die Zeit speichern, vergleichen und sichtbar machen.« Konkret besitzt das Projekt einen Wortvektorraum von etwa 50.000 Hauptbegriffen, die miteinander vernetzt sind. Es handelt sich vor allem um schulmedizinische Wirkstoffe, die in Hinblick auf Nebenwirkungen, Dosierung, Wechselwirkungen und Indikationen ausgewertet werden. Demnächst sollen weitere 50.000 Begriffe eingepflegt werden, vor allem aus dem Bereich Phytopharmaka.
In seinem Büro im hessischen Wesertal programmiert Sascha Langer den Avatar. / Foto: Foto: Sascha Langer
Schon im Jahr 2018 hatte Langer die Idee zu seinem Projekt, seit Anfang 2021 programmiert er mit zwei Kollegen daran. Technisch gesehen seien die Grundlagen der KI-Programmierung keine große Kunst, erzählt Langer, der per Fernstudium ein Informatik-Studium absolviert hat: »Das meiste passiert automatisch - man selbst muss aber auch automatisiert vorgehen«. Es gibt eine Sprachschnittstelle, so dass die Apothekerin/der Apotheker mit dem Avatar kommunizieren kann. Durch die Kommunikation lernt der Avatar dazu, denn er reagiert auf Input und verändert sich dynamisch durch die Anfragen. Auch aus dem Internet kann er Informationen ziehen. Der Avatar soll aber auch über einen Chatbot steuerbar sein und zu pharmazeutischen und medizinischen Themen befragt werden können – sowohl von Fachpersonal, als auch von Patientinnen und Patienten.
Das Ziel ist, dass die Apothekerin/der Apotheker in ein paar Jahren »Hans-Peter Merkur«, so hat Sascha Langer den Avatar genannt, als virtuellen Kollegen nutzt. Merkur deshalb, weil der Name etwas Alchimistisches und Pharmazeutisches für Langer an sich habe. »Hans-Peter Merkur, das Antibiotikum XY bei Pneumonie ist nicht mehr lieferbar – welches Antibiotikum würdest du mir stattdessen vorschlagen?«, könnte der Avatar zum Beispiel gefragt werden. »Die Information, welches Antibiotikum die gleiche Dosierung und den gleichen Wirkmechanismus hat, müsste die Apothekerin/der Apotheker sich erst mühsam an der Kasse im Datensystem heraussuchen«, sagt Langer. »Weil Hans-Peter Merkur eben diese hochverknüpften Wortvektorräume hat, hätte er dann gleich eine passende Antwort«.
Auf die Idee des Projektes kam der Pharmazeut durch seine Arbeit in der Rosen-Apotheke im nordrhein-westfälischen Brakel – dort ist er angestellt. »Ich habe mir die Frage gestellt, wie die Qualität der Beratung in Hinblick auf Beratungsinhalt und Beratungsqualität sichergestellt werden kann. Ist das Fachwissen noch aktuell? Wie wird Gesundheit im Internet repräsentiert? Wie sind Apotheke, Pharmazie und Medizin im Internet sichtbar? Welche Keywords sind hier wichtig?«, erklärt der Apotheker seinen Ansatz. Außerdem seien beispielsweise durch das Europäische Arzneibuch in der Apotheke mehrere Meter Regal belegt. »Und wenn man darin Nachweise sucht, muss man relativ lange nachschlagen und bei Fragen dazu findet man auch nichts bei Google: Zu wenig Leute befassen sich mit europäischen Arzneibuchnachweisen«, sagt er. Dadurch kam er auf die Idee, eine Art Expertensystem zu erfinden und Fachwissen neu zu strukturieren und am Ende leichter zugänglich zu machen. »Im Notdienst war ich außerdem von den vorhandenen Datenbanken oft genervt«, erzählt der Apotheker.
Für Sascha Langer ist KI das vielleicht wichtigste Thema unserer Zeit. »Gerade in einem Berufsfeld, das so stark den Gedanken der Beratung fokussiert, ist eine von Apothekern und Medizinern entwickelte moderne Datenstruktur ein Must-Have«, sagt er. Der KI-Avatar könne sowohl innerhalb der Heilberufe als Berater fungieren als auch in der Beratung von Patienten und Patientinnen eingesetzt werden. Die Einhaltung rechtlicher, technischer und ethischer Sachverhalte ist seien hierbei jedoch von großer Bedeutung. Die pharmazeutische Industrie, die Standesvertretungen und alle Akteure in den Gesundheitsberufen seien laut Langer gut beraten, den Trend der KI in Medizin und Pharmazie zu bemerken und aktiv mitzugestalten. »Weil wir immer die Gefahr haben, dass andere Leute in dem Bereich tätig werden und das für sich vereinnahmen und die eigentlichen Akteure daneben stehen und einfach nicht mitgemacht haben. Dann kann der zeitliche Vorsprung nicht mehr aufgeholt werden«, warnt er. »Es ist gut, wenn der Berufsstand eigene Konzepte entwickelt und nicht überholt wird«.
Am Ende soll das Projekt in Teilen als OpenSource Projekt der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Denkbar sind für Langer Sponsoren zur Finanzierung oder ein Portal, welches die Inhalte frei zur Verfügung stellt, sich aber über Werbeeinblendung finanziert. Fachlich und redaktionell soll das Projekt jedoch unabhängig von Interessen Dritter bleiben. Bis Anfang 2025 soll der Avatar fertig programmiert sein. »Hans-Peter Merkur löst Probleme in der Datenbereitstellung Pharmazie und Medizin, aber es ist halt am Ende doch nur ein Programm«, resümiert Langer. »Der große Traum hingegen ist ja die Programmierung eines Systems, welches eigenbewusst handelt wie ein Mensch und unterschiedlichste Aufgaben lösen kann. Das finde ich ethisch und technisch sehr spannend und bin froh, diese Zeiten von den Anfängen der ersten Home-Computer meiner Jugend bis hin zur KI- Programmierung erleben zu dürfen«.