Wenn man essen will, aber nicht essen kann |
Wählerisches Essen zeigen die meisten Kinder phasenweise und es geht vorbei, eine vermeidend-restriktive Ernährungsstörung (ARFID) dagegen nicht. Kinder essen dann mitunter nicht einmal Nudeln mit Tomatensauce. / © Getty Images/ingwervanille
ARFID oder auch vermeidend-restriktive Ernährungsstörung (Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder) wurde erstmals 2013 in einem Diagnoseleitfaden der USA als eigenständige Krankheit anerkannt. 2022 wurde ARFID in die Internationale Klassifikation der Erkrankungen (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen, die in Deutschland aber noch nicht genutzt wird. Ärzte rechnen den Termin unter sonstige Essstörungen ab. Die Zahl der Betroffenen ist unbekannt. Eine konkrete Therapie gibt es nicht, aber einen Selbsthilfeverein mit Sitz in Münster.
»Das ist verrückt, wenn man sein ganzes Leben damit lebt und dann auf einmal einen Namen dafür hat«, sagt eine Betroffene Mitte 30. »Rund 30 Jahre habe ich gedacht, ich bin in puncto Essen einfach doof und benehme mich wie ein Kleinkind.« Denn ARFID ist nicht einfach wählerisches Essen. »Es gibt einen Unterschied zwischen Sachen, die ich nicht mag, und Sachen, die ich nicht essen kann.«
Betroffen von ARFID sind sowohl Erwachsene als auch Kinder. Dabei könne es zum Beispiel um die Abwehr von Nahrungsmitteln aufgrund des Geruchs, des Geschmacks, der Konsistenz oder des Aussehens gehen, sagt Ricarda Schmidt von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Leipzig. Viele der Kinder oder Erwachsenen empfänden keinen Hunger, hätten Ängste vor dem Essen oder wenig Appetit. »Essen ist kein Genuss, sondern eine Belastung für sie.«
Manchmal sei die Abwehr gegen Essen so stark, dass Kinder Mangelerscheinungen bekommen oder abnehmen, sagt Schmidt. »Diese Kinder essen so wenig oder eingeschränkt, dass sie körperliche und psychosoziale Beeinträchtigungen entwickeln. Sie vermeiden beispielsweise Kindergeburtstage oder Schulausflüge wegen des Essens.« Es sei mehr als allgemeine Mäkeligkeit oder wählerisches Essen , was viele Kinder im Rahmen ihrer Entwicklung zeigten und was meistens vergehe (im Englischen auch »Picky Eater« genannt).
Über die Ursachen von ARFID weiß man bislang wenig. Eine genetische Veranlagung könnte gerade bei Betroffenen, die empfindlich gegenüber Gerüchen, Textur oder Geschmacksrichtungen seien oder einen Ekel vor vielen Speisen hätten, eine Rolle spielen, sagt Schmidt.
Angst vor dem Essen oder andere ARFID-Symptome könnten auch durch frühe traumatische Erfahrungen ausgelöst werden: Wenn ein Kind sich stark verschluckt hat, eine allergische Reaktion erlebt hat, wenn es früh intubiert werden musste oder Erkrankungen mit Schluckbeschwerden hatte.
Bei erkrankten Jugendlichen werde in Deutschland oft Magersucht angenommen, sagt Andrea Hartmann Firnkorn, Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Konstanz. »Doch Personen mit ARFID schränken ihr Essen nicht ein, weil sie abnehmen möchten. Sie essen teilweise auch beispielsweise Pommes, Nudeln oder Schokobrötchen.« Umgekehrt gibt es auch Kinder, die nicht einmal Pommes oder Schokoladenkuchen runter bekommen. Die Betroffenen können unter-, normal- oder übergewichtig sein, aber aufgrund der einseitigen Ernährung oft mangelernährt.
»ARFID ist für die gesamte Familie sehr anstrengend«, sagt Schmidt. »Oft zeigen sich schon früh Auffälligkeiten beim Essen, zum Beispiel beim Stillen oder wenn man Beikost einführt.« Eltern sollten zum Kinderarzt gehen, um die körperlichen Folgen abschätzen zu lassen. Er kann auch abklären, ob Magen-Darm-Probleme oder eine Nahrungsmittelallergie vorliegen. »Man muss davon ausgehen, dass der Arzt ARFID nicht kennt und es als Mäkeligkeit abtut. Mäkeligkeit geht jedoch vorbei, ARFID nicht.«
Eine Analyse von 77 Studien gibt erste Hinweise auf mögliche Therapieansätze: Obwohl es recht kleine Studien ohne Langzeitbeobachtung seien, zeigten sie Ansätze, die erforscht werden sollten, schreibt ein Team um Laura Bourne vom University College London im Journal »Psychiatry Research«. Darunter seien die familienbasierte Therapie, die kognitive Verhaltenstherapie und zum Teil eine ergänzende Gabe von Psychopharmaka. Je nach Hauptproblem und Schweregrad müsse die Therapie individuell angepasst werden. Neben einer Psychotherapie kann Logopädie eine Möglichkeit sein, insbesondere bei einer Aversion gegen bestimmte feste Lebensmittel.
Wichtig sei ein entspanntes Klima am Esstisch, auch wenn es schwer sein könne, betont Schmidt. »Die Eltern sollten Freude am Essen vermitteln und abgelehntes Essen immer wieder in Schalen auf dem Tisch anbieten, so dass sich jeder davon nehmen kann.« Mindestens zehn Mal sollte ein neues Nahrungsmittel probiert werden, damit man sich damit anfreundet, sagt Schmidt.
Andererseits helfe es nichts, wenn Druck ausgeübt werde, Gemüse, Obst, Milchprodukte oder Fleisch und Fisch zu essen. Viele Menschen mit ARFID möchten ja etwas essen. »Manche Kinder möchten gerne Kartoffelbrei essen, schaffen es aber nicht, diesen Ekel zu überwinden.«
Die Psychologinnen Hartmann Firnkorn und Julia Engelkamp haben an der Universität Konstanz eine Online-Therapie mit Videotherapiesitzungen und Selbstlernmodulen gestartet, bei der Familien individuell betreut werden. »Es ist wichtig, dass jemand Neutrales reinkommt, weil das Thema Essen häufig zum Kriegsschauplatz geworden ist«, sagt Hartmann Firnkorn.
»Wir werden ARFID nicht in zwölf Wochen zum Verschwinden bringen«, sagt die Forscherin. Für andere Essstörungen wie die Magersucht oder Bulimie sei auch häufig eine Langzeittherapie um die 60 Sitzungen notwendig. »Wir wollen aber Werkzeuge in die Hand geben, mit denen die Familie weiterarbeiten kann. Wenn Kinder aktuell nur drei bis vier Nahrungsmittel essen, dann dauert es auch über die Therapie hinaus an, zu einem ausgewogenen Ernährungsverhalten mit genügend verschiedenen Nahrungsmitteln zu gelangen.«
Wichtig sei, in kleinen Schritten vorzugehen: »Von Spaghetti vielleicht erstmal zu einer andern Nudelform oder Marke gehen und nicht gleich Tomatensoße hinzuzufügen«, meint Hartmann Firnkorn. Bedeutend seien Erfolgserlebnisse. »Das Kind soll merken, ich kann etwas anderes essen.«