Wenn Gehörtes nicht richtig ankommt |
| Laura Rudolph |
| 31.01.2024 18:00 Uhr |
Die Diagnose einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung können Phoniater und Pädaudiologen anhand spezieller Tests stellen. / Foto: Adobe Stock/Dusko
Als auditive Verarbeitung und Wahrnehmung bezeichnet man die Gesamtheit der Prozesse im Gehirn, die dazu führen, dass Gehörtes richtig verstanden und interpretiert werden kann. Diese Vorgänge laufen teils im Stammhirn und teils im Großhirn ab. Sie bilden die Grundlage dafür, dass Menschen eine Schallrichtung lokalisieren, ähnliche Sprachlaute auseinanderhalten und sich Gehörtes im Kurzzeitgedächtnis merken können.
Der Großteil der Fähigkeiten, die der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung zuzuordnen sind, entwickelt sich im frühen Kindesalter kontinuierlich bis etwa zum sechsten Lebensjahr. Ist diese Entwicklung gestört, kann sich vorwiegend im Alter zwischen zwei und vier Jahren eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) ausbilden.
Erste Anzeichen können sich bereits im Kleinkindalter zeigen, beispielsweise wenn ein mindestens zweijähriges Kind eine Schallquelle nicht richtig orten kann und deshalb den Kopf nicht exakt in deren Richtung dreht. Bei etwa vierjährigen Kindern – die normalerweise bereits gut sprechen können sollten – kann sich eine AVWS etwa durch Schwierigkeiten bei der Unterscheidung ähnlicher Sprachlaute wie »Kanne« und »Tanne« bemerkbar machen. Auch reagieren betroffene Kinder häufig nur verzögert oder auch gar nicht, wenn sie angesprochen werden.
»Ein deutliches Anzeichen für eine AVWS ist, wenn Kinder neue Wörter oder Anweisungen falsch verstehen und dadurch wie schwerhörig oder gar ein bisschen dumm erscheinen. Sie begreifen nicht sofort, was vor sich geht«, erklärt Professor Dr. Rainer Schönweiler, Leiter der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, im Gespräch mit der PZ. Auch eine undeutliche Aussprache, das Auslassen von Wortendungen, Schwierigkeiten mit dem Wortschatz, der Grammatik oder verschiedenen Zeit- und Pluralformen können mit einer AVWS einhergehen.
Professor Dr. Rainer Schönweiler / Foto: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
Probleme zeigen sich häufig erst dann, wenn sich das betroffene Kind in einer unruhigen Umgebung mit vielen Schallquellen und Störgeräuschen befindet, etwa im Kindergarten. Daher kann sich eine AVWS auch in Problemen beim Erwerb einer Zweitsprache äußern, sofern diese Sprache überwiegend im Kindergarten statt im ruhigeren häuslichen Umfeld gesprochen wird.
Wichtig zur Erkennung einer möglichen AVWS sei meist eine Fremdbeurteilung, beispielsweise durch Eltern, Erzieher, Lehrer oder Ärzte, betont Schönweiler. Die Kinder könne man in diesem Alter noch nicht sinnvoll zu ihren Problemen befragen. Manchmal falle auch den Eltern zunächst nicht auf, dass ihr Kind ein Problem mit der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung haben könnte.
Zunächst sei es sinnvoll, wichtige Differenzialdiagnosen wie Schwerhörigkeit, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder eine Intelligenzminderung ärztlich ausschließen zu lassen. Die Diagnosestellung einer AVWS sei eine Domäne der Phoniater und Pädaudiologen – aber frühestens ab dem sechsten Lebensjahr sinnvoll, gibt der Experte zu bedenken. »Vorher entwickelt sich der Großteil der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung erst noch. Man sollte nicht in eine laufende Entwicklung hineinpathologisieren und dem Kind eine Diagnose antun, die sich später als falsch herausstellen könnte«, so Schönweiler.
Mittels spezieller Sprachverstehenstests können Phoniater und Pädaudiologen die Sprachlautunterscheidung, die Fähigkeit, in der gesprochenen Sprache eine Lautstruktur zu erkennen (phonologische Bewusstheit), sowie die Fähigkeit, sich Silben zu merken (phonologisches Gedächtnis) untersuchen.
Wird eine AVWS diagnostiziert, gibt es verschiedene Therapieoptionen. Diese sollten sich stets nach dem individuellen Störungsprofil richten. Kindern, die beispielsweise beim Lautunterscheidungstest Ergebnisse unter einem gewissen Grenzwert erreichen, kann beispielsweise eine Sprachtherapie verordnet werden, in der dieses Defizit trainiert wird. »Bis die Sprachtherapie erste Erfolge zeigt, können Betroffene in der Schule Ausgleichsmaßnahmen beantragen«, erläutert Schönweiler.
Ist das Hauptproblem eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Störschall, kann der Facharzt ein technisches Hilfsmittel, eine spezielle Übertragungsanlage als eine Art beidseitiges Hörgerät, verordnen. Wird dieses Hörgerät seitens der Schule und der Eltern akzeptiert, können Kinder mit AVWS auf diese Weise in eine Regelschule gehen: Lehrende und Mitschüler tragen dann Ansteckmikrofone, die den Schall des Sprechers ohne Störgeräusche per Funk direkt an das Empfängergerät des Kindes senden.
Liegt die Ursache für die AVWS in einem beeinträchtigten Ultrakurzzeitgedächtnis, gibt es laut Schönweiler keine wirksamen Therapien. »Während das Langzeitgedächtnis theoretisch trainierbar ist, besteht für das Kurzzeitgedächtnis im Bereich der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistung im Prinzip keine realistische Chance zur gezielten Verbesserung«, so der Experte. Dies sei auch in Studien beobachtet worden.
Bei einer solchen Form der AVWS bleibe letztlich nur die Option, den Zustand zu akzeptieren und das Beste aus der Situation zu machen. »Wir können Betroffene in diesem Fall etwa bei der Auswahl eines Berufs unterstützen, den sie trotz dieser Form der AVWS ausüben können – beispielsweise Berufe, bei denen das Kurzzeitgedächtnis nicht so relevant ist.«
Die Heilungsrate bis zum Erwachsenenalter sei bei AVWS recht hoch. Als grobe Faustregel gelte, dass sich eine AVWS bei zwei von drei Betroffenen bis zum Jugendalter stark bessere. Auch über die Risikofaktoren, eine AVWS zu entwickeln, informierte der Experte. So sei eine genetische Prädisposition bekannt. Ein weiterer anerkannter Risikofaktor seien häufige und unzureichend behandelte Paukenergüsse, die zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr – also mitten in der Entwicklung der auditive Verarbeitung und Wahrnehmung – aufgetreten sind.
Als Paukenergüsse bezeichnet man eine Erkrankung im Ohr, bei der sich Flüssigkeit im Mittelohr hinter dem Trommelfell ansammelt. Dies mindert das Hörvermögen und reduziert die Schallleitung. Treten bei einem Kind häufiger solche Episoden mit schlechtem Hören auf, kann dies die Entwicklung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung beeinträchtigen. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme seien dagegen Geburtskomplikationen wie Sauerstoffmangel keine anerkannten Ursachen einer AVWS, so Schönweiler abschließend.