| Daniela Hüttemann |
| 27.07.2023 17:55 Uhr |
Ärzte sollten den Patienten in die Therapieentscheidung mit einbeziehen und die Vor- und Nachteile einer Therapie ebenso wie die Folgen einer Nicht-Behandlung erläutern. Das erhöht die Chance, dass der Patient sein Rezept einlöst und das Medikament dauerhaft anwendet. / Foto: Adobe Stock/sebra
»Primäre Non-Adhärenz ist ein wichtiger, jedoch wenig untersuchter Aspekt einer ungenügenden Wirksamkeit einer Pharmakotherapie«, schreiben Professor Dr. Martin Schulz und Professor Dr. Ulrich Laufs in einem Review zu dem Thema im Fachjournal »Clinical Research in Cardiology«. Schulz ist Vorsitzender der AMK, Geschäftsführer Arzneimittel der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin; Laufs ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig.
Mit primärer Non-Adhärenz ist gemeint, wenn der Patient zwar eine Verschreibung vom Arzt für eine neue medikamentöse Therapie erhält, diese aber nicht einlöst. Schulz und Laufs kommen zu dem Schluss, dass mehr als jede zehnte Erstverordnung betroffen ist und bezeichnen dies sogar als konservative Schätzung. »Da Medikamente nicht wirken können, wenn der Patient sie gar nicht erst erhält, ist primäre Non-Adhärenz ein großes Problem im Gesundheitssystem«, so das Arzt-Apotheker-Duo. Das sei nicht nur schlecht für den einzelnen, sondern auch ein ökonomisches Problem für die ganze Gesellschaft, vor allem durch den entsprechenden Produktivitätsverlust.
Insgesamt analysierten Schulz und Laufs zwei Metaanalysen und 39 originäre Studien. In ihrem Review beschäftigt sich das Autorenteam intensiv mit den Gründen und Risikofaktoren und wie sich die Adhärenz verbessern lässt, speziell bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. Denn Verschreibungen von Lipid- und Blutdrucksenkern scheinen besonders häufig betroffen zu sein.
Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2018 beispielsweise kam zu dem Ergebnis, dass Lipidsenker eine besonders hohe primäre Non-Adhärenz aufweisen. Hier wird jedes fünfte Rezept nicht eingelöst. Zu den klinischen Folgen der primären Non-Adhärenz konnte das Autorenduo keine Daten finden und sieht hier dringenden Forschungsbedarf.
Exakte Zahlen für Deutschland liegen nicht vor, da bislang nicht erfasst werden kann, ob ein Patient sein Rezept auch einlöst. Die elektronische Patientenakte (EPA) könnte das ändern. In den USA zeigte eine Studie mit knapp 200.000 elektronischen Verschreibungen bereits im Jahr 2010, dass von den rund 82.000 Erstverordnungen nur 72 Prozent auch eingelöst wurden. Am häufigsten nicht eingelöst wurden Rezepte für Diabetes (31,4 Prozent), Dyslipidämie (28,2 Prozent) und Bluthochdruck (28,4 Prozent).
Eine aktuelle Studie aus den Niederlanden, die ebenfalls auf elektronischen Verordnungsdaten basiert, kam bei etwa 180.000 Neuverschreibungen für knapp 66.000 Patienten auf eine primäre Non-Adhärenz von durchschnittlich 11,5 Prozent. Als assoziierte Risikofaktoren machten die niederländischen Forschenden vor allem viele Komorbiditäten (mindestens drei) und die Kostenübernahme aus.
Die Daten deuten auch daraufhin, dass die primäre Non-Adhärenz vor allem bei der Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen hoch ist, also wenn der Patient ein erhöhtes Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung hat, aber noch keinen Herzinfarkt, Schlaganfall oder ähnliches Ereignis durchlebt hat. Diese Patienten lösten bis zu 40 Prozent der Erstverordnungen nicht ein.
Sie werden von möglichen Nebenwirkungen oder der Angst vor einer Abhängigkeit abgeschreckt, sie haben Zweifel an der Notwendigkeit und der Wirksamkeit und/oder sie hoffen auf alternative Möglichkeiten wie eine Ernährungsumstellung oder Nahrungsergänzungs- und pflanzliche Mittel. Hier stimmt offensichtlich die Einschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses nicht, vor allem bei den Statinen.
Weitere potenzielle Gründe neben den bereits genannten sind Polypharmazie, hohe Zuzahlungen / keine Kostenübernahme, niedriges Einkommen, geringe soziale Unterstützung, Verlegung in ein Pflegeheim, asymptomatische Erkrankungen wie Bluthochdruck und Hyperlipidämie und lange Wege zur nächsten Apotheke.
Interessanterweise scheinen auch Papier-Rezepte seltener eingelöst zu werden als elektronische Verschreibungen. Auffällig war auch, dass die meisten Rezepte innerhalb einer Woche eingelöst werden. Wer es länger liegen lässt, löst es tendenziell eher nicht ein.
Was kann man nun tun, um die primäre Adhärenz zu verbessern? Manchmal reicht ein einzelner automatischer Anruf oder Brief, zeigte ein Studie, in der kontrolliert werden konnte, ob das Statin-Rezept eingelöst wurde. In einer anderen Studie dagegen hatten solche automatischen Erinnerungen keinen Effekt. Anders sah es aus, wenn die Apotheke persönlich anrief.
Wichtig sei auch, die Patienten in die Therapieentscheidung mit einzubinden, damit diese die Medikamenten-Anwendung mittragen. »Patienten müssen die Art des medizinischen Problems verstehen, genau wie die Vor- und Nachteile einer (Nicht-)Behandlung mit der am wirksamsten und sichersten gewählten Medikation«, betonen die Autoren.
Dies gelte vor allem, wenn die Behandlung über einen langen Zeitraum, vielleicht sogar lebenslang erforderlich ist, da dies ein besonders hohes »Commitment« verlange. Löst ein Patient dagegen ein Rezept für ein Schmerzmittel für ein akutes Problem nicht ein, ist dies als weniger problematisch einzustufen, da der Schmerz auch von allein vergehen kann.
Und manchmal kann es auch gute Gründe geben, ein Rezept erst einmal liegen zu lassen – beim sogenannten Wait-and-See-Ansatz, den Ärzte zum Beispiel manchmal bei Antibiotika-Verordnungen praktizieren. Dabei erhält der Patient zwar eine Verordnung, soll aber erst einmal noch ein paar Tage abwarten, wie sich die Infektion entwickelt – und im besten Fall das Rezept erst gar nicht einlösen. So erspart man sich weitere Arztbesuche und schont Ressourcen, indem der Patient nicht unnötig eine Packung Antibiotika zu Hause liegen hat.
»Mehr Forschung ist notwendig, um besser zu verstehen, warum Patienten auf eine evidenzbasierte Pharmakotherapie verzichten, und um gezielte Interventionen zu finden«, schließen die Autoren. Ein Problem ist beispielsweise, dass primäre Non-Adhärenz im derzeitigen Setting in Deutschland gar nicht erfasst werden kann. Der Arzt weiß gar nicht, ob sein Patient das Medikament abgeholt hat. Möglicherweise haken Mediziner aber auch nicht genügend nach, ob und wie ein Patient mit seinen Medikamenten klar kommt, da ihnen das Ausmaß der Non-Adhärenz, primärer wie sekundärer, gar nicht bewusst ist, mutmaßen Schulz und Laufs.
Einer Studie zufolge waren sich die Verordner bei weniger der Hälfte von Patienten mit Einlösungs-Lücken in den Apotheken-Daten über die Non-Adhärenz bewusst. Die Folge könne eine Intensivierung der Medikation oder gar invasive Methoden sein, wenn zum Beispiel der Blutdruck einfach nicht sinken will. Ärzte sollten daher besser geschult werden, Non-Adhärenz zu erkennen und dieser entgegenzuwirken, empfehlen Schulz und Laufs. Elektronische Patientenakten könnten hier mehr Licht ins Dunkel bringen. Auch Apotheken-basierte Interventionen könnten, sollte das Rezept elektronisch anlanden, hier weiterhelfen.
So lautet denn auch ihr Fazit: »Maßnahmen zur Verringerung der primären Non-Adhärenz bei Medikamenten könnten – sobald sie sich als wirksam erwiesen haben – eine wichtige neue Möglichkeit zur Reduzierung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen darstellen.«