Weniger Leid mit Shakespeare |
Jennifer Evans |
06.11.2023 07:00 Uhr |
Werke des Dramatikers William Shakespeare (im Foto als Wachsfigur) wie »König Lear« liefern der Medizin heute wichtige Hinweise zu verschiedenen Erkrankungen. / Foto: Adobe Stock/yorgen67
PZ: Warum sollten Geisteswissenschaften und Medizin näher zusammenrücken? Und wie kann das beim Umgang mit Krankheiten helfen?
Kriebernegg: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen sind bestrebt, neue Perspektiven sowohl in die Medizin als auch in die Geisteswissenschaften zu bringen und die beiden Felder als Gebiete im Austausch zu begreifen. Das interdisziplinäre Forschungsfeld der sogenannten Medical Humanities will unter anderem anhand von Literatur und Kunst ein besseres Verständnis einer Erkrankung erreichen. Gemeinsamer Nenner ist der Fokus auf den Menschen. Die Verknüpfung dieser beiden Disziplinen hat auch Tradition. Man denke etwa an den griechischen Gott der Poesie und der Medizin Apollo. Aber auch andere Künstlerinnen und Künstler interessierte die Beziehung zwischen Literatur und Medizin, wie unter anderem William Carlos Williams, der berühmte amerikanische Autor war auch Arzt und verarbeitete in seiner Kurzgeschichtensammlung »The Doctor Stories« seine Erfahrungen. Oder auch Arthur Schnitzler mit seiner »Traumnovelle«. Und wenn man die Beziehung in die heutige Zeit hineindenkt, ist es auch nicht erstaunlich, dass Serien wie »Dr. House«, »Scrubs« oder »Emergency Room« so populär sind. Wir möchten mehr über die Welt des Krankenhauses erfahren. Die Darstellung dieser Welt ist interessant, weil sie menschliche Schicksale darstellt.
PZ: War die Trennung der Disziplinen immer so stark wie heute?
Kriebernegg: Nein. Es war früher nicht ungewöhnlich – und ist es auch heute nicht – dass Themen wie Krankheit und Gebrechen in literarischen Werken aufgegriffen wurden. Was die Medizin als Wissenschaft betrifft, wurde das Wissen jedoch immer spezifischer. Philosophie, Kunst und Literatur, die ja vor hundert Jahren noch Teil des Curriculums waren, wurden zugunsten naturwissenschaftlichen Wissens aus den medizinischen Lehrplänen verdrängt. Die Health und Medical Humanities, speziell die Narrative Medizin, bemüht sich in der letzten Zeit stark, mit medizinischem Personal und Studierenden zu arbeiten.
PZ: Was bringen nun die Medical Humanities Patientinnen und Patienten in der Praxis?
Kriebernegg: Es hat sich gezeigt, dass Literatur und Kunst die Empathie von medizinischem Personal fördern können und so dabei helfen, über die Fantasie ein ganzheitlicheres Verständnis einer Erkrankung zu erlangen. Außerdem wird dadurch klar, dass noch andere Zugangswege zu einer Krankheit – und vor allem zum Menschen – existieren als die evidenzbasierte Medizin. Durch die Spaltung der Disziplinen gingen jedoch wichtige Möglichkeiten verloren, den Menschen, sein Leiden und sein Leben umfassend zu begreifen. Auch das Altern ist ein komplexer Vorgang, der sich nur multiperspektivisch erforschen lässt. Kunst und Kultur können dabei sehr wertvollen Input liefern.
PZ: Welche literarischen Werke helfen dabei, den alternden Menschen besser zu verstehen? Und wie?
Professor Dr. Ulla Kriebernegg ist Amerikanistin und Alternswissenschafterin sowie Leiterin des Zentrums für interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung der Universität Graz. / Foto: Foto Furgler
Kriebernegg: Alternde Menschen sind ja nicht notwendigerweise kranke Menschen – das möchte ich nicht einfach so gleichsetzen. Aber Literatur kann auch helfen, sowohl über Krankheit als auch über das Alter differenzierter nachzudenken. Nehmen wir zum Beispiel die Figur des König Lear von William Shakespeare. Während er vor vierhundert Jahren als milder, weiser Monarch galt, ist er in neueren Theaterproduktionen oft der gefährliche Diktator, neuerdings mit Demenz. Wie gehen wir mit Verletzlichkeit und Demenz um? Was wir bedenken sollten: Menschen wie König Lear – nicht als Könige, aber als einst mächtige Personen wie Konzernchefs, die nun alt geworden sind und ihre Macht abgegeben haben, sitzen auch in der geriatrischen Praxis. Die Frage ist: Wie kann man ihnen helfen, wenn sie von Trauer, Verlust, Angst und Verzweiflung geplagt sind? Wenn sie mit ihren Angehörigen keinen Kontakt mehr haben? Literatur und Film können dabei wertvolle Hilfestellungen geben.
Die Literaturwissenschaft kann Widersprüchliches aufzeigen und den Stereotypen etwas entgegensetzen. Shakespeares Text hilft uns beispielsweise zu erkennen, dass persönliche Zuwendung und Aufrichtigkeit in jeder Phase des Lebens wichtig sind und dass es um die Haltung geht. Vor allem aber ist für die Medizin interessant, dass Demenz, vielleicht Lewy-Body-Demenz, König Lear sehr vulnerabel macht. Und ist die Vorstellung, ihn zu pflegen, denn für die Töchter tatsächlich so schlimm, dass er verstoßen werden muss? In den neueren Darstellungen der Figur ist einiges an Altersfeindlichkeit hinzugekommen. Diese Interpretation ist im Ursprungstext nicht so angelegt, wenn man bedenkt, dass die Töchter den »alten Narren« nur verstoßen haben, weil er so anstrengend war.
PZ: Gibt es weitere Beispiele aus der bildenden Kunst, der Musik oder dem Film, von denen die heutige Medizin lernen könnte?
Kriebernegg: Da gibt es unzählige. Sehr beliebt ist der bekannte Film »Amour« von Michael Haneke, aber auch Leo Tolstois Novelle »Der Tod des Iwan Iljitsch«, in der es um die Angst vor den Schmerzen im Tod geht. Und vor ein paar Jahren ist mir eine wunderbare deutsche Kurzgeschichte untergekommen: »Il Comandante« von Karen Köhler, in der eine junge Frau mit ihrer Krebsdiagnose umgehen muss. Darum geht es auch im berühmten Gedicht »Was der Doktor gesagt hat« von Raymond Carver. Im Bereich der Narrativen Medizin wäre interessant, wie das SPIKES Protokoll hier umgesetzt wird.
PZ: Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit und woran forschen Sie aktuell?
Kriebernegg: Ich hoffe, dass ich zu mehr intergenerationeller Solidarität beitragen kann. Zudem sollte die Gesellschaft Alter nicht nur als Belastung verstehen, sondern darin auch Möglichleiten erkennen. Altern ist so vielfältig! Generell wünsche ich mir, dass die Ambivalenzen des Alterns besser angenommen werden und sich so ein größeres holistisches Denken entwickelt.
Aktuell befasse ich mich mit dem Thema Altersbilder und intergenerationelle Gerechtigkeit in der Climate-Fiction-Literatur. Dabei kam bereits zutage, dass es im Klimawandel-Diskurs eine gesellschaftliche Spaltung in Jung und Alt gibt. Und die ist sehr kontraproduktiv. Faszinierend finden wir daran die Übertragung von Metaphern des Klimawandels auf den alternden Körper – die austrocknende Erde, die rissige Haut, die Bedrohung – da gibt es noch viel zu tun.