Was mit der Gesichtserkennung möglich ist |
Christina Hohmann-Jeddi |
21.05.2024 13:00 Uhr |
Viele seltene Erkrankungen gehen mit charakteristischen Mustern von Gesichtsmerkmalen einher. Diese lassen sich mittels eines KI-gestützten Systems erkennen. / Foto: Adobe Stocks/Tetiana mit KI
Als selten gelten Erkrankungen, wenn weniger als 1 von 2000 Menschen betroffen sind. Insgesamt mehr als 8000 solcher Erkrankungen gibt es. Somit leben weltweit etwa 300 Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung. Aufgrund der Seltenheit fehlt in der Ärzteschaft meist die Expertise, weshalb Patienten häufig jahrelange Ärzte-Odysseen hinter sich haben, bis sie die richtige Diagnose erhalten. Um die Diagnostik zu vereinfachen, wurden verschiedene digitale Diagnose-Assistenzsysteme entwickelt. Was diese Systeme schon leisten können und woran derzeit gearbeitet wird, war Thema einer Session beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), der Mitte April in Wiesbaden stattfand.
Für die Entwicklung von Diagnose-Assistenzsystemen müsse das Wissen zu den einzelnen seltenen Erkrankungen aggregiert werden, sagte Professorin Dr. Annette Wagner von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Die Leiterin der Ambulanz für seltene entzündliche Systemerkrankungen mit Nierenbeteiligung am MHH arbeitet an einem Projekt, das ein digitales Diagnose-Assistenzsystem mit dem Namen Ada DX für seltene Erkrankungen des Unternehmens Ada Health evaluiert. Das Hauptprodukt des Unternehmens ist eine Symptom-Checker-App namens Ada, die inzwischen von zwölf Millionen Menschen genutzt wird und mehr als 30 Millionen Symptomanalysen durchgeführt hat. In den USA nutzen Versicherungen zum Teil die App, um Patienten bei einer Kontaktaufnahme zum richtigen Arzt zu schicken.
Das System basiert auf medizinischen Wissensdatenbanken und probabilistischen Modellen und berechnet für bestimmte Symptome die Krankheitswahrscheinlichkeit. Hierfür werden die Symptome und klinischen Parameter von Patienten in eine Art Fragebogen eingetragen und das System ermittelt die wahrscheinlichste zugrundeliegende Erkrankung. Das System lernt mit jeder Anfrage hinzu, allerdings von Menschen überwacht und validiert.
Für Ada DX wurden bislang etwa 500 seltene Erkrankungen speziell aufgearbeitet und zu der Ada-Datenbasis ergänzt. Dass das System die Diagnosefindung vereinfachen kann, zeigt eine Untersuchung, die ein Team um Wagner 2019 im »Orphanet Journal of Rare Diseases« publizierte (DOI: 10.1186/s13023-019-1040-6). Die retrospektive Analyse von Krankheitsfällen ergab, dass Ada DX in den meisten Fällen von seltenen Krankheiten korrekte Vorschläge lieferte – und zwar schon früh im Verlauf der Krankheitsgeschichte. Bei einem Beispiel, einem 43-jährigen Mann mit monogenetischem Fiebersyndrom, hätte Ada DX die Erkrankung schon 27 Jahre vor der Diagnose ermitteln können.
Durch frühe Diagnosen ließen sich auch Gesundheitskosten einsparen, wie das Team um Wagner in einer weiteren Studie ermittelte. Die Medizinerin sieht in digitalen Diagnose-Assistenzsystemen gute Hilfsmittel für Ärzte, um die Diagnosefindung zu beschleunigen und damit die Lebensqualität der Patienten zu verbessern und Ressourcen einzusparen.
Neben Ada DX gibt es noch eine Reihe weiterer Diagnose-Assistenzsysteme speziell für seltene Erkrankungen, die in der Regel kostenlos nutzbar sind, wie FindZebra, Phenomizer, PhenoTips und Rare Disease Discovery. Zudem gibt es noch lizenzbasierte Systeme, die nicht auf seltene Krankheiten spezialisiert sind, diese aber bis zu einem gewissen Grad abdecken, wie Isabel und DXplain.
»Es gibt für die seltenen Erkrankungen etwa 15 oder 16 Tools«, sagte Professor Dr. Martin Hirsch, Direktor des Instituts für KI in der Medizin der Universität Marburg und einer der Mitgründer von Ada Health. »Aber nur vier von ihnen benutzen künstliche Intelligenz.« Der Grund: Nicht nur den Medizinern auch der künstlichen Intelligenz (KI) bereiten die geringen Fallzahlen der seltenen Erkrankungen Probleme. »Normalerweise brauchen wir für ein Featureset etwa mindestens 300 oder 400 gut qualifizierte Datensätze, um die neuronalen Netze zu trainieren – und das haben wir bei den seltenen Erkrankungen eben nicht.«
Ada DX könne KI nutzen, weil man für das System einen probabilistischen Ansatz gewählt habe, berichtete Hirsch. Hierfür habe man im Detail eingeben müssen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Patient mit einem bestimmten Symptom eine bestimmte Krankheit hat und umgekehrt, wie wahrscheinlich bei Vorliegen einer bestimmten Krankheit es ist, bestimmte Symptome aufzuweisen. Diese Wertepaare habe man aus der Literatur aber auch mit Expertenbefragung ermittelt, so Hirsch.
Einen weiteren KI-Ansatz könnten die sogenannten Large Language Models (LLM) wie ChatGPT darstellen. An einem entsprechenden Projekt mit der Bezeichnung read4rare arbeite man derzeit am Marburger Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen. Dort habe man Patientenakten eingescannt, daraus Daten extrahiert und eine künstliche Fallbeschreibung generiert. Diese habe man einem LLM gegeben, das dann Diagnosevorschläge machte. »Die ersten Ergebnisse sind erstaunlich vielversprechend«, sagte Hirsch. Mit einer Veröffentlichung der Daten sei in etwa einem Jahr zu rechnen. Bei einem weiteren Projekt, iQ4rare, beantworten Patienten einen strukturierten, intelligenten Fragebogen, der aufgrund der gegebenen Antworten spezifisch weiterfragen kann und so alle Daten für eine künstliche Fallbeschreibung ermittelt. Diese wird wiederum einem LLM gegeben, um Diagnosevorschläge zu machen.
Einen speziellen Ansatz zur Diagnosehilfe für seltene Erkrankungen stellte der Humangenetiker und Physiker Professor Dr. Peter Krawitz vom Institut für genomische Statistik und Bioinformatik der Universität Bonn auf dem DGIM-Kongress vor. Die App GestaltMatcher nutzt Gesichtserkennungssysteme, um spezifische Merkmale in einem Gesicht zu erkennen, die auf seltene Erkrankungen hindeuten. Das System baut dabei auf Systeme auf, die etwa beim Öffnen von Smartphones genutzt werden. »Bei vielen seltenen Erkrankungen liegen charakteristische Gesichtsmerkmale, sogenannte Dysmorphien der Facies, vor«, erklärte Krawitz. Vor allem ist dies bei neuronalen Entwicklungsstörungen der Fall, weil es gemeinsame genregulatorische Grundlagen der Entwicklung von Gehirn und Gesicht gibt.
Die App GestaltMatcher nutzt KI, um Diagnosevorschläge zu machen. Das funktioniert wie folgt: Ein Porträtfoto wird in einem speziell auf Facies trainiertes neuronales Netz für Gesichtserkennung prozessiert, um die Merkmalskombination dann in einem 320-dimensionalen Merkmalsraum zu projizieren. »Der Fall, der in diesem Merkmalsraum am nächsten an dem untersuchten Fall liegt, hat vermutlich die gleiche molekulare Diagnose«, sagte Krawitz.
Der GestaltMatcher kann inzwischen 1000 Syndrome erkennen. In 50 bis 70 Prozent der Fälle schlägt die App bei seltenen und ultraseltenen Erkrankungen die richtige Diagnose in den Top-5-Diagnosevorschlägen vor. Der GestaltMatcher sei bereit für die Anwendung für Mediziner, sagte der Humangenetiker. Derzeit versuche man, die verschiedenen Ethnien stärker in die Datenbasis mit einzubeziehen.