Was hilft gegen den Fachkräftemangel? |
Lukas Brockfeld |
14.03.2024 15:00 Uhr |
Der Radiomoderator Gerhard Schröder (Mitte) sprach mit seinen Gästen über den demografischen Wandel im Gesundheitswesen. / Foto: Screenshot / IKK e.V.
Die Folgen des demografischen Wandels sind schon jetzt im Alltag der Deutschen spürbar. Wie groß das Problem in naher Zukunft werden könnte, zeigte Professor Boris Augurzky in seinem Eröffnungsvortrag. Der Wissenschaftler vom Essener RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung attestierte, dass die deutsche Bevölkerung in eine historisch einmaligen Phase der »Schrumpfung und starken Alterung« eingetreten sei.
»Wir haben eine hohe Zahl von über 55-Jährigen im Gesundheitswesen«, erklärte Augurzky. »Aktuell kommen auf jeden Berufseinsteiger 1,8 Menschen, die in Rente gehen. Die Neuen werden nicht doppelt so viel arbeiten können, viele von ihnen wollen sogar weniger arbeiten als die Generationen zuvor.« Dieses Problem betreffe nicht nur das Gesundheitssystem, sondern die gesamte Gesellschaft.
»In Dienstleistungsberufen wie dem Gesundheitswesen ist die Herausforderung besonders groß. In der Industrie können Maschinen oder digitale Anwendungen eingesetzt werden, im Bereich Gesundheit sind wir dagegen auf Personal angewiesen«, so der Professor. Hinzu komme, dass die Nachfrage nach medizinischen Behandlungen durch die alternde Gesellschaft wachse, während gleichzeitig das Personalangebot schrumpfe.
Anders als auf freien Märkten ließe sich das Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage nicht durch Preissteigerungen korrigieren, weil die Menschen nur wenig Einfluss auf ihren Behandlungsbedarf haben. Drohende Rationierungen der Gesundheitsversorgung müssten unbedingt verhindert werden, daher ist es für Professor Augurzky »ethisch geboten«, die Effizienz des Systems zu erhöhen.
Der Wissenschaftler wies darauf hin, dass zwar im gesamten Gesundheitssystem über den Personalmangel geklagt werde, gleichzeitig aber auch die Zahl der Beschäftigten in der Branche zunehme. Auch die Zahl der Auszubildenden sei in den vergangenen Jahren gestiegen. Das Problem sei vielmehr ein Rückgang der Produktivität, der beispielsweise bei Krankenhausärzten beobachtet werden könne.
»Wir werden dieses Problem nicht mit einer einzigen Maßnahme lösen können, wir müssen an ganz vielen Stellschrauben ansetzen«, betonte Augurzky. Ein wesentlicher Ansatz sei die Erhöhung der Arbeitszeit im Gesundheitswesen. »Wir haben viele Teilzeitkräfte, die sind voll ausgebildet und müssen nichts mehr lernen. Die Frage ist also, wie können wir dem Trend, dass viele in Teilzeit gehen, entgegenwirken?« Außerdem müsse man sich bemühen, die Krankheitstage zu reduzieren und die knappen Kräfte effektiver einzusetzen.
Auch Zuwanderung könne zur Lösung des Fachkräftemangels beitragen. Es sei allerdings unmöglich, eine große Zahl an Arbeitskräften aus der Europäischen Union anzuwerben, da alle Mitgliedsländer mit ähnlichen demografischen Problemen zu kämpfen hätten. »Doch allein in Indien leben 322 Millionen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren. Die wären dankbar für eine Millionen weniger, da sie einen Bevölkerungsüberschuss und eine höhere Arbeitslosenquote haben«, erklärte Professor Augurzky.
Damit Deutschland eine große Zahl ausländischer Fachkräfte aufnehmen kann, bräuchte es nach Ansicht des Wissenschaftlers effizientere Strukturen in den Behörden und eine einfachere Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Außerdem könne man Arbeitskräfte aus anderen Branchen abwerben, deren Personalbedarf sich durch Automatisierung senken ließe. Hierfür bräuchte es aber attraktivere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen.
Augurzky betonte, dass eine Erhöhung des Angebots an Arbeitskräften mit einer Reduzierung der Nachfrage einhergehen müsse. Hier könne beispielsweise ein Ausbau telemedizinischer Angebote, die Ambulantisierung von Behandlungen und eine bessere Patientensteuerung helfen.
Die zweite Hälfte der 29. »Plattform Gesundheit« fand als Podiumsdiskussion statt. Hier sprachen Jens Cordes (Verwaltungsratsvorsitzender IKK), Michaela Evans-Borchers (Westfälische Hochschule Gelsenkirchen), Stephan Pilsinger (Gesundheitspolitischer Sprecher der CSU Landesgruppe) und Christine Vogler (Präsidentin des Deutschen Pflegerats) mit dem Moderator Gerhard Schröder vom Deutschlandradio.
Pilsinger erzählte von seiner eigenen Tätigkeit als Arzt im Krankenhaus. Oft hätten die Pflegekräfte mindestens so viel Ahnung von der praktischen Behandlung wie die Ärzte, trotzdem müssten sie aufgrund der Vorschriften ständig von diesen begleitet werden. »Es ist bei vielen Behandlungen überfällig, dass sie von qualifizierten Kräften selbstständig gemacht werden dürfen«, betonte der CSU-Politiker.
Pflegeratspräsidentin Christine Vogler mahnte einen Abbau von bürokratischen Vorschriften an: »Die Bürokratie, die wir heute haben, dient in keinster Weise der pflegerischen Versorgung. Wir dokumentieren für die Abrechnungen, die Statistiken und das Controlling.« Neues Personal könne nur gewonnen werden, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern und sich Pflegekräfte auf ihren eigentlichen Beruf fokussieren können.
Michaela Evans-Borchers wünschte sich bessere Möglichkeiten für einen Wechsel in Gesundheitsberufe: »In vielen Branchen werden zum Beispiel durch die Digitalisierung Jobs wegfallen. Das kann eine Chance für Gesundheitsberufe sein, wenn wir es schaffen, gute Bedingungen für Quereinsteiger zu schaffen.« Deutschland müsse eine hohe Zahl an Arbeitslosen vermeiden, während gleichzeitig an anderer Stelle händeringend nach Fachkräften gesucht wird.