Was die Funde in Deutschland bedeuten |
Polioviren gehören zu den Enteroviren und infizieren hauptsächlich den Magen-Darm-Trakt. Sie werden von Infizierten ausgeschieden und sind deshalb in Abwasser zu finden. / © Getty Images/Science Photo Library
Nach dem Fund von Polioviren in München, Bonn, Köln und Hamburg sind die Erreger auch in Proben aus weiteren deutschen Städten nachgewiesen worden. Positive Tests gab es aus Klärwerken in
Dresden, Düsseldorf und Mainz, teilte das Robert-Koch-Institut (RKI) gestern mit. Damit wurde der Erreger in allen insgesamt sieben regelmäßig untersuchten Städten nachgewiesen. Die Testungen werden seit 2021 durchgeführt.
Bei den Erregern, die Mitte bis Ende November entdeckt wurden, handelt es sich laut RKI-Angaben nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um sogenannte impfstoffabgeleitete Viren (VDPV), die auf die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung (OPV) mit abgeschwächten, aber lebenden Polio-Erregern zurückgehen. Die Impfviren können von Geimpften bis zu sechs Wochen lang ausgeschieden und weiterverbreitet werden. Erhält jemand die Schluckimpfung, können sowohl der Impfling selbst als auch Kontaktpersonen – in sehr seltenen Fällen – an sogenannter Impf-Polio erkranken. Die Schluckimpfung ist vor allem in Asien und Afrika weit verbreitet. In Deutschland gibt es die Schluckimpfung seit 1998 nicht mehr. Hierzulande wird ausschließlich ein inaktivierter Polioimpfstoff (IPV) geimpft, der in den Muskel gespritzt wird.
Nachgewiesen wurde in allen Fällen sogenannte zirkulierende VDPV vom Typ 2 (cVDPV2). Diese entstehen, wenn die abgeschwächten Impfviren über längere Zeit in nicht ausreichend immunisierten Populationen zirkulieren und sich genetisch so verändern, dass sie wieder pathogen werden und Lähmungen auslösen können. Mithilfe der Nachweise könne nicht sicher gesagt werden, ob die cVDPV2 innerhalb von Deutschland zirkulieren oder ob sie ausschließlich von Menschen ausgeschieden wurden, die sich außerhalb von Deutschland infiziert haben, erklärt das RKI. »Es ist jedoch denkbar, dass Menschen hierzulande die Viren weitergeben und – sofern ungeimpft – einzelne von ihnen auch an einer Poliomyelitis erkranken«, hieß es. Eine mögliche lokale Zirkulation müsse daher in jedem Fall rasch gestoppt werden.
Die Poliovirusfunde in Deutschland seien ein Hinweis, dass das Frühwarnsystem über Abwasseruntersuchungen funktioniere, sagte Privatdozent Dr. Rainer Gosert vom Universitätsspital Basel in der Schweiz gegenüber dem Science Media Center Deutschland. »Der alleinige Nachweis von Poliovirus-Genomabschnitten im Abwasser sagt aber nichts darüber aus, ob es sich um vermehrungsfähige und somit um infektiöse Viren handelt.« Auch die Frage, wie lange die Viren-Fragmente schon im Abwasser vorhanden sind, lasse sich nicht eindeutig klären.
Das Risiko, an einer VDPV-bedingten Poliomyelitis zu erkranken, ist sehr gering. Laut Professor Dr. Roman Wölfel, Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr in München, seien in den vergangenen Jahrzehnten auf der ganzen Welt Milliarden von OPV-Schluckimpfungen ausgegeben und damit Millionen Fälle von Kinderlähmung vermieden worden. »Sehr selten kam es zu Ausbrüchen von Impfpolio mit insgesamt bislang wenigen Tausend Fällen weltweit«, so Wölfel.
Poliomyelitis ist eine hochansteckende Krankheit, die bei nicht ausreichend immunisierten Menschen zu dauerhaften Lähmungen führen kann. Bestehende Impflücken sollten geschlossen werden, rät das RKI. Medizinisches Personal und Mitarbeitende im öffentlichen Gesundheitsdienst sollten jetzt eine erhöhte Wachsamkeit bei Poliomyelitis-typischen Symptomen haben.
Die bundesweite Impfquote liegt nach Angaben des RKI bei rund 90 Prozent. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt eine Grundimmunisierung im Säuglingsalter, bestehend aus drei Impfungen im Alter von zwei, vier und elf Monaten. Im Alter von neun bis 16 Jahren wird eine Auffrischimpfung empfohlen. Menschen, die vier Impfungen erhalten haben und somit vollständig gegen Polio geimpft wurden, sind vor der Erkrankung geschützt – auch bei VDPV-Infektionen. Das RKI hat Hilfestellungen, wie man den Impfschutz gegen Polio prüft für Kinder von einem Jahr bis acht Jahren, für Kinder und Jugendliche von neun bis 17 Jahren und für Erwachsene herausgegeben.