Warum Kardiologen gendern sollten |
Annette Rößler |
23.07.2024 18:00 Uhr |
Ab dem 30. Lebensjahr und noch stärker ab der Menopause steigt bei Frauen der Blutdruck. Das sollte beobachtet werden, denn das Risiko für Komplikationen ist bei Frauen bereits ab niedrigeren Blutdruckwerten erhöht im Gegensatz zu Männern. / Foto: Getty Images/alvarez
Was haben ACE-Hemmer und Statine gemeinsam? Sie rufen bei weiblichen Patienten häufiger unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) hervor als bei männlichen. Das Beispiel ist dem Positionspapier der DGK entnommen, das aktuell in der Fachzeitschrift »Die Kardiologie« erschienen ist.
»Es ist mittlerweile unbestritten, dass sich kardiovaskuläre Erkrankungen bei beiden Geschlechtern nicht immer identisch manifestieren, sondern Unterschiede in Anatomie, Prävalenz, Ätiologie, Pathophysiologie, Symptomatik sowie in Verlauf, Therapieansprechen und der Prognose aufweisen können«, heißt es da. Obwohl diese Unterschiede also »unbestritten« vorhanden sind, würden sie in Leitlinien noch kaum berücksichtigt, weil die Evidenz – wegen der schon vielfach beklagten Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien – unzureichend sei.
In dem Positionspapier hat die DGK daher zusammengetragen, was über die Verschiedenheiten von männlichen und weiblichen Herz-Kreislauf-Patienten bislang bekannt ist. Darunter finden sich zahlreiche Aspekte, die auch für Leser außerhalb der spezifisch kardiologischen Fachkreise interessant sind.
Fast schon ein Klassiker ist dabei der Hinweis auf die geschlechtsabhängig unterschiedlichen Symptome eines Herzinfarktes: Während bei Männern häufig ein starkes Enge- oder Druckgefühl in der Brust, oft mit Ausstrahlung in den linken Arm dominiert, sind diese Anzeichen bei Frauen seltener vorhanden. Sie erleben bei einem Herzinfarkt stattdessen häufiger Luftnot, Leistungsschwäche, Müdigkeit, vermehrtes Schwitzen, Übelkeit und Schmerzen im Oberbauch, in der rechten Körperhälfte, im Schulter- oder im Nackenbereich.
Die DGK verweist daher auf die aktuellen europäischen Leitlinien, wonach die Begriffe »typischer« beziehungsweise »atypischer« Brustschmerz zugunsten der Bezeichnungen »kardiale«, »wahrscheinlich kardiale« und »wahrscheinlich nicht kardiale« Symptome aufgegeben werden sollen. Obwohl diese Unterschiede schon oft beschrieben wurden, würden immer noch selbst in der Notaufnahme die Anzeichen eines Herzinfarktes bei Frauen häufiger nicht als solche erkannt als bei Männern, konstatiert die Fachgesellschaft.
Was die verschiedenen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen angeht, so sind diese laut dem Positionspapier bei Frauen und Männern unterschiedlich gewichtet. So seien bei Männern eine Dyslipidämie, bei Frauen dagegen ein systolischer Bluthochdruck die wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren.
Hierzu trägt sicher bei, dass bei Frauen das Risiko für eine Herzinsuffizienz oder einen Schlaganfall bereits ab niedrigeren Blutdruckwerten ansteigt als bei Männern. Da wirkt es sich umso stärker aus, dass Frauen jenseits des 65. Lebensjahres häufiger an einer Hypertonie leiden als gleichaltrige Männer: Während die Bluthochdruck-Prävalenz im mittleren Alter noch bei beiden Geschlechtern ähnlich hoch ist (Männer: 34 Prozent, Frauen: 32 Prozent), steigt der Blutdruck bei Frauen beginnend ab dem dritten Lebensjahrzehnt und dann noch einmal verstärkt ab der Menopause steiler an als bei Männern.
Einen großen Anteil an den geschlechtsspezifischen Unterschieden im kardiovaskulären Risikoprofil haben die Geschlechtshormone, insbesondere das Estrogen. Es wirkt blutdrucksenkend und entzündungshemmend. Zudem sorgt es für eine subkutane statt viszerale Fettakkumulation sowie über eine Drosselung der PCSK9-Expression für niedrigere LDL-Cholesterolspiegel.
Fällt der Estrogenspiegel in den Wechseljahren ab, verändern sich folglich neben dem Blutdruck auch weitere Parameter wie die Blutfette. Das damit einhergehende kardiovaskuläre Risiko werde allerdings sowohl von den Patientinnen als auch von den behandelnden Ärzten unterschätzt, so die DGK. Denn obwohl lipidsenkende Medikamente bei beiden Geschlechtern gleich gut wirksam seien, erreichten Frauen seltener als Männer den empfohlenen LDL-Zielwert.
Nikotin reduziert die Wirkung von Estrogen und vermindert zudem die Prolaktinsekretion, sodass die Menopause bei Raucherinnen ein bis vier Jahre früher eintreten kann als bei Nichtraucherinnen. Hierdurch erhöht sich das kardiovaskuläre Risiko der Betroffenen. Nikotin schädigt das Herz-Kreislauf-System aber auch direkt – und zwar bei Frauen offenbar stärker als bei Männern. Während männliche Raucher ein durchschnittlich 1,43-mal höheres Risiko für einen Herzinfarkt haben als Nichtraucher, liegt das durchschnittliche Risiko für Raucherinnen 2,24-mal höher.
Aufs Rauchen verzichten und stattdessen lieber Sport treiben: Das lohnt sich (nicht nur für Frauen) gleich doppelt. Bei der Anpassung des Herzmuskels an körperliche Belastung gibt es jedoch ebenfalls geschlechtsspezifische Unterschiede. Frauen entwickeln deutlich seltener als Männer ein sogenanntes Sportlerherz, also eine Herzvergrößerung infolge von intensivem Ausdauertraining. Im Bereich des Leistungssports sind sie zudem sehr viel seltener als Männer von malignen Rhythmusstörungen oder einem plötzlichen Herztod betroffen.
Frauen sind bei der Diagnosestellung einer kardiovaskulären Erkrankung in der Regel älter und weisen mehr Komorbiditäten auf als Männer. Das macht auch die Pharmakotherapie komplizierter. / Foto: Adobe Stock/Ingo Bartussek
Last, but not least findet sich in dem Positionspapier ein Abschnitt zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bei der Pharmakotherapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hierzu konstatiert die Fachgesellschaft, dass bei Frauen oft niedrigere Dosierungen ausreichen, um eine effektive Wirkung zu erzielen, sodass zukünftig geschlechtsspezifische Dosierungsempfehlungen evaluiert werden sollten.
Wahrscheinlich (auch) estrogenabhängig ist ein Unterschied in der Empfindlichkeit für arzneimittelbedingte Herzrhythmusstörungen: Stärker als Männer sind Frauen gefährdet für eine QTC-Zeit-Verlängerung etwa durch Psychopharmaka oder bestimmten Antibiotika. Insbesondere weibliche Patienten sollten daher unter der Anwendung solcher Arzneistoffe ein EKG-Monitoring erhalten.
In mehreren Tabellen sind zudem Unterschiede zwischen Mann und Frau zusammengetragen, die die Pharmakologie beeinflussen, und zwar nicht nur die von kardiovaskulären Wirkstoffen.
Enzym | Stärker aktiv bei |
---|---|
CYP1A2 | Männern |
CYP2A1 | Männern |
CYP2A6 | Frauen |
CYP2B6 | Frauen |
CYP2C9 | Frauen und Männern gleich |
CYP2C19 | Wahrscheinlich bei Frauen und Männern gleich |
CYP2D6 | Männern |
CYP2E1 | Männern |
CYP3A4 | Frauen |
Arylamin-N-Acetyltransferase | Frauen und Männern gleich |
P-Glykoprotein | Männern |
Thiopurin-Methyltransferase | Männern |
Uridin-5-Diphospho-Glucuronosyltransferase (UGT) | Männern |
Frauen haben demnach eine längere gastrale Entleerungs- und enterale Transitzeit, während bei Männern mehr Magensäure produziert und enterale Transportproteine exprimiert werden. Unter dem Strich können dadurch bei Frauen die orale Bioverfügbarkeit geringer und ein möglicher Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und Wirkstoffresorption stärker ausgeprägt sein. Unterschiede im Körpergewicht, dem Körperfettanteil, Plasmavolumen und bei der Durchblutung der Organe bedingen, dass lipophile Arzneistoffe bei Frauen schnell und lange wirken, während hydrophile (nur) bei hohem Plasmaspiegel eine starke Wirksamkeit aufweisen.
All diese Gegebenheiten können dazu beitragen, dass Arzneistoffe in den üblichen Dosen geschlechtsabhängig unterschiedlich starke erwünschte und unerwünschte Wirkungen haben. Dies könne sich auch auf die Adhärenz auswirken, heißt es in dem Positionspapier. Es bestehe deshalb weiterer Forschungsbedarf, um künftig die klinische Pharmakotherapie bei ausreichender Wirksamkeit noch sicherer zu machen.
Wirkstoff(e) | Besonderheit |
---|---|
ACE-Hemmer | Kein Mortalitätsbenefit für Frauen mit asymptomatischer Reduktion der linksventrikulären FunktionHöhere Rate an Nebenwirkungen inklusive Husten bei Frauen |
Acetylsalicylsäure (ASS) | Erhöhte Blutungsrate bei FrauenHäufiger Vorliegen einer ASS-Resistenz bei FrauenBenefit in der Sekundärprophylaxe unabhängig vom Geschlecht, Daten für die Primärprävention nicht einheitlich |
Betablocker | Bei Frauen größere Reduktion von Herzfrequenz und Blutdruck unter BelastungCYP2D6-abhängig geringere Wirkung von Metoprolol, Carvedilol, Nebivolol oder Propranolol bei Frauen möglich, kein Unterschied bei CYP2D6-unabhängigen Wirkstoffen wie Sotalol, Bisoprolol oder AtenololVergleichbarer Überlebenseffekt bei Herzinsuffizienz mit reduzierter Linksherzfunktion in beiden Geschlechtern |
Calciumkanalblocker | Höhere Rate an Ödemen und stärkere Blutdrucksenkung bei Frauen |
Digoxin | Erhöhte Mortalitätsrate bei Frauen mit höheren Plasmaspiegeln (≥ 0,9 ng/ml), entsprechende Kontrollen erforderlich |
Diuretika | Häufiger Elektrolytentgleisungen bei Frauen mit erhöhter Rate an Hospitalisierungen und relevanten Arrhythmien |
Sacubitril/Valsartan | Vergleichbarer Effekt bei Frauen und Männern |
Heparin | Erhöhte Blutungsrate bei Frauen |
Nitrate | Höhere Plasmaspiegel von Isosorbid-5-Mononitrat, geringeres Körpergewicht von Frauen bei der Dosierung beachten |
Phenprocoumon | Geringere Dosen bei Frauen erforderlich |
Statine | Vergleichbarer Effekt bezüglich Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen bei beiden GeschlechternHäufiger Myopathien bei Frauen, vor allem bei geringem Körpergewicht |