Waldspaziergang statt Antidepressivum |
Christina Hohmann-Jeddi |
22.02.2023 18:00 Uhr |
Naturerlebnisse wirken sich so positiv auf die Gesundheit aus, dass man sie per Rezept verschreiben sollte. / Foto: Adobe Stock/Iurii Seleznev
Lärm, Luftverschmutzung, sozialer Stress – das Leben in der Stadt kann sich ungünstig auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirken. Vor allem auf den zweiten Aspekt ging Professor Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) Ende 2022 in Berlin ein.
Eine Reihe von psychischen Erkrankungen träten in Städten häufiger auf als auf dem Land, sagte Meyer-Lindenberg. Die Zusammenhänge seien kausal. Die erste Studie, die dies zeigte, stamme aus dem Jahr 1939 aus Chicago. Warum ist das so?
»Städte machen einen unglücklich, wie mehrere Studien zeigen«, so der Psychiater. Menschen seien in Städten weniger zufrieden. Ein Grund hierfür sei vermutlich, dass Städte eine soziale Stresssituation darstellten, weil dort Wohnende zwar Kontakte mit vielen Menschen hätten, diese aber nicht kennen. Auf dem Land sei dies anders: Dort treffe man weniger Menschen, diese kenne man aber.
Bei Städtern springe im ZNS die Amygdala (»Mandelkern«) als Gefahrensensor auf diese Situation an und sei besonders aktiv, sagte Meyer-Lindenberg. Von der Amygdala-Aktivierung werde angenommen, dass sie die gemeinsame Endstrecke der Erkrankungen Depression und Angststörungen darstelle. Nachweislich sei das Risiko für Depressionen und Angsterkrankungen für Städter um 30 bis 50 Prozent erhöht, berichtete der Psychiater.
Allein die Tatsache, dass man in einer großen Stadt geboren wurde, könne sich schon negativ auswirken. Bei solchen Personen sei vor allem das perigenuale Zingulum betroffen, das den Mandelkern reguliere, berichtete Meyer-Lindenberg. Störungen in dieser Struktur erhöhten das Risiko für Schizophrenie. Das Risiko für diese Erkrankung liege für Menschen, die in Städten geboren wurden und einen erheblichen Teil der Kindheit dort verbrachten, um den Faktor 3 höher als bei auf dem Land geborenen Menschen.
Es sei eine dringende Frage, wie man den negativen Effekten von Stadtleben entgegenwirken könne, denn die Urbanisierung schreite weltweit deutlich voran. »Inzwischen lebt jeder zweite Mensch in Städten, bis 2050 werden es etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung sein«, sagte der Experte.
Als schützende Faktoren für die psychische Gesundheit hätten sich zum Beispiel positive soziale Interaktionen mit anderen Menschen, körperliche Aktivität und vor allem Naturerleben herausgestellt, berichtete Meyer-Lindenberg. Dass sich Naturerleben positiv auf Gehirnfunktionen und das Wohlbefinden auswirkt, konnten Forschende um Professor Dr. Gregory Bratman von der Stanford University, USA, bereits 2015 in einer kontrollierten Studie nachweisen (»PNAS«). Die Forschenden ließen 38 Probanden entweder einen 90-minütigen Spaziergang durch die Stadt oder durch einen Wald machen und maßen anschließend verschiedene Gehirnfunktionen und psychologische Parameter.
»Nach dem Waldspaziergang fühlten sich die Probanden besser als nach einem Stadtspaziergang«, sagte Meyer-Lindenberg. Die Personen, die durch die Natur spazierten, schnitten auch in kognitiven Tests besser ab, berichteten über weniger Angstsymptome und über weniger Grübeln (Rumination). Letzteres ist mit einem erhöhten Risiko für Depressionen assoziiert. »Vermittelt wurden die Effekte offenbar über das perigenuale Zingulum«, berichtete der Psychiater.
In einer eigenen Studie konnte Meyer-Lindenberg nachweisen, dass das Ausmaß an Grünfläche, das Menschen in einer Woche sehen, sich auf ihr Wohlbefinden auswirkt. »Jeder fühlt sich besser, wenn er mehr Grünflächen begegnet.« Manche Menschen profitierten aber mehr als andere. Besonders stark reagierten Personen, die Probleme bei der Emotionsregulation hätten, so der Referent. Die Natur helfe, wenn Probleme bestünden, negative Emotionen zu verarbeiten.
Auf die Wirkung von Grünflächen auf die Psyche ging auch Professor Dr. Mazda Adli, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, ein. So könne schon ein kurzer Aufenthalt im Grünen das Stresslevel senken. Das konnte im Jahr 2019 eine Gruppe um Professor Dr. Mary Carol Hunter anhand von Cortisol-Messungen im Speichel bei Probanden nach Naturexposition zeigen (»Frontiers in Psychology«). Dabei hatte eine Dauer von 20 bis 30 Minuten den stärksten Effekt. Ob man bei dem Aufenthalt spazierte oder saß, spielte dabei keine Rolle.
Eine deutsche Arbeitsgruppe habe zudem gezeigt, dass ein Spaziergang von einer Stunde die Amygdala-Aktivität reduziere. »Grün besänftigt unser Gehirn und macht uns resilienter«, so Adli. Er nannte weitere Effekte: So sinke die Suizidrate bei steigender Baumkronendichte in der Wohnumgebung und auch der Gebrauch von Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva, nehme bei steigendem Grünflächenanteil am Wohnort ab. Letzteres wurde in mehreren Studien gezeigt.
Einer erst vor Kurzem veröffentlichten Arbeit von Forschenden aus Finnland zufolge ist die Häufigkeit von Naturerlebnissen wie Waldspaziergängen oder Parkbesuchen mit dem Risiko für die Einnahme von Psychopharmaka assoziiert. Je häufiger die Natur erlebt wurde, desto geringer war das Risiko für eine Medikation. Das Gleiche galt auch für Asthma-Medikamente und Antihypertensiva (»Occupational & Environmental Medicine« 2023, DOI: 10.1136/oemed-2022-108491).
Warum reagiert der Mensch so positiv auf Natur? Das habe vermutlich einen evolutionären Hintergrund, sagte Meyer-Lindenberg. Der Biophilie-Hypothese zufolge hat der Mensch im Laufe der Evolution eine Liebe zu den Habitaten entwickelt, die Leben ermöglichen. Hierzu zählen vor allem Landschaften mit Bäumen als Schutz sowie Wasser, das zum Überleben wichtig ist.
Mischwald mit Fluss: Noch heute präferierten Menschen diese Art von Natur, wie Untersuchungen zeigten, in denen Landschaftsaufnahmen nach Schönheit bewertet werden. In Städten sei der Zugriff auf diese Natur reduziert und der Klimawandel verschärfe die Situation zusätzlich. Seiner Ansicht nach sei es wichtig, die Erkenntnisse zu den positiven Effekten von Grünflächen in die Städteplanung mit einzubeziehen.