Voxelotor hemmt Hämoglobin-Polymerisation |
Kerstin A. Gräfe |
27.05.2022 07:00 Uhr |
Sichelzellen können kleine Blutgefäße verstopfen, was schmerzhafte, teils lebensbedrohliche Durchblutungsstörungen verursachen kann. / Foto: Adobe Stock/Kateryna_Kon
Die Sichelzellkrankheit ist eine genetische Erkrankung, bei der die Betroffenen eine abnorme Form von Hämoglobin (Hb) produzieren. Gesunde rote Blutkörperchen enthalten normales Hämoglobin. Dadurch sind sie rund und geschmeidig und passen durch kleinste Blutgefäße, um die Organe mit Sauerstoff zu versorgen. Bei der Sichelzellkrankheit ist die β-Kette im Hämoglobin krankhaft verändert.
Bei einer guten Sauerstoffversorgung hat dies keine Folgen. Ist das sogenannte Sichelzellhämoglobin (HbS) aber nicht mit Sauerstoff beladen, verändert es seine Form und folglich auch die der Erythrozyten. Sie werden steif, halbmond- oder sichelförmig und können verklumpen. Die Sichelzellen können kleine Blutgefäße verstopfen, was schmerzhafte, teils lebensbedrohliche Durchblutungsstörungen (Sichelzellkrisen) auslöst. Zudem sind die Sichelzellen fragil und reißen leicht. Die Folgen sind Hämolyse und Anämie, was die Lebensqualität verschlechtert und regelmäßige Transfusionen erforderlich macht.
Mit dem HbS-Polymerisationshemmer Voxelotor (Oxbryta® 500 mg Filmtabletten, Global Blood Therapeutics) ist seit Mitte Mai eine neue Therapieoption im Handel. Er hemmt die Polymerisation von HbS, indem er die Affinität von Hämoglobin zu Sauerstoff erhöht. Dies mündet in einer Hemmung der Sichelbildung und einer verbesserten Deformierbarkeit der Erythrozyten. Laut Hersteller ist es das erste in Europa verfügbare orale Medikament, das die Polymerisation von Sichelzellhämoglobin direkt hemmt.
Oxbryta darf eingesetzt werden zur Behandlung hämolytischer Anämie bei Patienten ab zwölf Jahren mit Sichelzellanämie. Es kann als Monotherapie oder in Kombination mit Hydroxycarbamid angewendet werden. Die empfohlene Dosis beträgt 1500 mg (drei Tabletten) einmal täglich. Patienten mit schwerer Störung der Leberfunktion sollen nur zwei Tabletten pro Tag einnehmen. Die Einnahme kann zum Essen oder unabhängig davon erfolgen. Wird eine Dosis versäumt, soll diese am Tag nach der versäumten Dosis nachgeholt werden.
Die gleichzeitige Anwendung von starken CYP3A4-Induktoren ist zu vermeiden, da diese zu einem Wirkverlust des neuen Arzneistoffs führen könnte. Umgekehrt ist Voxelotor in vitro ein Hemmer und Induktor von CYP2B6 sowie ein Hemmer von CYP2C8, CYP2C9, CYP2C19 und CYP3A4. Bei der gleichzeitigen Anwendung mit den jeweiligen sensitiven Substraten wird zur Vorsicht geraten. Des Weiteren ist Oxbryta ein Hemmstoff verschiedener Transporter wie OATP1B1, OAT3 und MATE1. Auch hier wird bei gleichzeitiger Anwendung von sensitiven Substraten dieser Transporter zur Vorsicht geraten, vor allem bei solchen mit geringer therapeutischer Breite.
Aus Vorsichtsgründen soll die Anwendung des Wirkstoffs bei Schwangeren und Stillenden möglichst vermieden werden.
Die Zulassung basiert auf den Daten der Phase-III-Studie HOPE mit 274 Patienten mit Sichelzellanämie. Die Probanden erhielten einmal täglich entweder 1500 mg Voxelotor, 900 mg Voxelotor oder Placebo. Primärer Endpunkt war ein Anstieg des Hämoglobinwerts um mindestens 1 g/dl innerhalb von 24 Wochen.
Diesen erreichten 51 Prozent der Patienten mit der höheren Voxelotor-Dosierung gegenüber 7 Prozent der Patienten aus der Placebogruppe. Der beobachtete Hb-Anstieg begann in Woche 2 und blieb bis einschließlich Woche 72 erhalten. Zudem kam es bei den Studienteilnehmern, die mit Oxbryta behandelt wurden, zahlenmäßig zu weniger vasookklusiven Krisen. Der Unterschied war allerdings nicht statistisch signifikant; die Studie war aber auch nicht darauf ausgelegt, einen Unterschied nachzuweisen.
Als häufigste Nebenwirkungen traten Kopfschmerzen, Diarrhö, Bauchschmerzen, Übelkeit sowie Müdigkeit und Fieber auf.
Bei der Behandlung der Sichelzellkrankheit tut sich etwas. Nachdem bereits Ende 2020 mit Crizanlizumab eine Sprunginnovation in dieser Indikation auf den Markt kam, folgt mit Voxelotor nun die nächste. Sie wartet mit einem neuen Wirkmechanismus auf: Der Hämoglobinmodulator Voxelotor erhöht die Affinität von Hämoglobin zu Sauerstoff, was letztlich die Sichelbildung der Erythrozyten verhindert. Dies rechtfertigt die Einstufung als Sprunginnovation.
Das Wirkkonzept bringt es jedoch auch mit sich, dass Voxelotor die Fähigkeit von Hämoglobin, Sauerstoff im Körper freizusetzen, verringern könnte. In der Zulassungsstudie erkannte man keine eindeutige Erhöhung von Erythropoeitin, die auf eine Abnahme des verfügbaren Sauerstoffgehalts im Blut hindeuten würde. Dennoch sollte man die Möglichkeit dieser Wirkung im Hinterkopf behalten. Sie würde sich schließlich voraussichtlich negativ auf die Lebensqualität auswirken.
Positiv ist dagegen hervorzuheben, dass Voxelotor zur Behandlung hämolytischer Anämie infolge der Sichelzellkrankheit gedacht ist. Für dieses Symptom der Erkrankung besteht noch ein ungedeckter medizinischer Bedarf. In der Zulassungsstudie konnte gezeigt werden, dass Voxelotor die Anämie bessert, indem es die Hämoglobinwerte erhöht und den Abbau von roten Blutkörperchen reduziert. Bei Crizanlizumab und auch bei Hydroxycarbamid steht dagegen die Prävention vasooklusiver Krisen im Vordergrund.
Von Vorteil ist, dass Voxelotor ebenso wie Hydroxycarbamid oral verfügbar ist und die beiden Arzneistoffe auch kombiniert werden können. Im Fall einer Monotherapie könnte auch ein Blick auf die Nierenfunktion des Patienten wichtig werden. Da bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion unter Hydroxycarbamid die Dosis anzupassen ist, kann Voxelotor bei dieser Patientengruppe möglicherweise die bessere und sicherere Behandlung sein.
Summa summarum darf man Voxelotor vorläufig als Sprunginnovation sehen, die das Potenzial hat, vielen Betroffenen zu helfen.
Sven Siebenand, Chefredakteur