Vier Zukunftsszenarien für die Arzneimittelversorgung |
Cornelia Dölger |
18.05.2021 15:30 Uhr |
Wohin des Weges mit der Arzneimittelversorgung? Der Branchenverband Pro Generika hat zu diesem Thema eine Studie in Auftrag gegeben. / Foto: Getty Images/artisteer
Gerade in diesen Zeiten, wo sich alle Welt nach einem Ende der aktuellen Zustände sehnt, stellt sich oft die Frage nach der Zukunft. Wie wird es nach der Pandemie sein? Wann werden wir wieder unser gewohntes Leben führen können? Wird das Restaurant um die Ecke den Lockdown überlebt haben? Während hierbei naturgemäß wenig Gewissheit und viel Einbildungskraft im Spiel sind, geht die Generika- und Biosimilarbranche das Thema Zukunft ganz nüchtern an. Der Branchenverband Pro Generika wollte wissen, wie es um die Arzneimittelversorgung in Europa im Jahr 2030 und darüber hinaus bestellt sein wird und hat dazu die School of International Business and Entrepreneurship (SIBE) der Steinbeis-Hochschule in Berlin einen Blick in die Zukunft werfen lassen.
Anhand von wissenschaftlichen Kriterien erarbeitet, sind in der Studie »Zukunft der europäischen Generika- und Biosimilarsindustrie 2030 plus« vier Szenarien herausgekommen, die alle für sich realistisch sind, wie die Autoren schreiben, aber dennoch nicht in Stein gemeißelt. »Es gibt nicht nur eine Zukunft, sondern mindestens vier«, heißt es einleitend. In der ersten der vier Möglichkeiten dominiert klar das Thema Nachhaltigkeit. Der Trend sei ein »alles beherrschendes globales Paradigma geworden«, skizziert die Studie. Alles müsse nachhaltig hergestellt und vertrieben werden, »bei ökologischer Transparenz der kompletten Wertschöpfungskette und positiver Sozialbilanz – auch bei Generika und Biosimilars«. Durch die strikten Vorgaben zur Nachhaltigkeit konzentriere sich die Arzneimittelbranche bei Produktion und Vertrieb auf Europa, was die Branche im Vergleich zu heute stark deglobalisiert und europäisiert. Das Szenario firmiert unter dem Titel »Neue Spielregeln in der Heimat«.
Im zweiten Szenario, »Vorstoß in die Plattform-Ökonomie«, hat sich die Wertschöpfung revolutioniert. Zum Beispiel sei es hier möglich, dass Ärzte mit Hilfe des Syntheseverfahrens in den RNA-Druckern Medikamente nicht nur verschreiben, sondern sie direkt selbst »ausdrucken«, heißt es. »Neue Technologien wie der 3-D- und 4-D-Druck kommen in Apotheken und an anderen dezentralen Standorten zum Einsatz, sogar auch in etlichen Privathaushalten.« Arzneimittelhersteller bauten Plattformen im direkten Kontakt zu den Patienten auf und etablierten Direktvertriebsstrukturen zum Beispiel für 3-D-Drucker.
Vor allem um Kosten geht es im dritten Szenario »Aufbruch in eine neue Welt«. »Schritt für Schritt« sei hier die Arzneimittelbranche aus Europa abgewandert – vor allem in die bevölkerungsreichen Absatzmärkte in Afrika. Der europäische Markt werde nur noch mit klassischen Vertriebsgesellschaften und Kooperationen bedient. Dass Europa dadurch noch stärker von fremden Ländern abhängt und Versorgungsengpässe noch häufiger würden, werde in Kauf genommen, weil die Kosteneinsparungen enorm sind.
Das vierte Szenario, »eine konsequente Neuorientierung«, ist das revolutionärste. Es geht von einer weitgehenden Zerstörung des klassischen Generika-Markts aus, die durch immer individuellere Medizin und Therapie vorangetrieben wurde. Diese Therapien arbeiteten »eben nicht mit generischen, sondern mit spezifischen und personalisierten Arzneimitteln«, weshalb sich die Branche auf andere Produkte spezialisiert, nämlich Prophylaxe, Lifestyle-Medikation und Selbstoptimierung.
Gleich vier Arten von Zukunft, aber welche wird es werden? Wovon hängt es ab, wie die Versorgung der Menschen mit Arzneimitteln in gerade einmal zehn Jahren aussieht? Laut der Studie davon, wie sich die Generikabranche auf bestimmten einzelnen Ebenen entwickelt, nämlich auf der sozio-kulturellen, der technologischen, der ökonomischen und der politisch-rechtlichen Ebene. »Wer diese vier Ebenen kennt, kennt mögliche Zukünfte«, erklären die Autoren. Anders gesagt: Wer herausfinde, wie sich diese Ebenen künftig für die Branche verändern werden, könne daraus ableiten, was sich insgesamt für Generika- und Biosimilarhersteller in Zukunft ändern wird. Und herausfinden ließe sich dies mithilfe von Zukunftsthesen.
Wird es zum Beispiel im Jahr 2030 so sein, dass viele Generika-Präparate im Bereich der »Volkskrankheiten« außerhalb der Apotheken ohne Rezeptpflicht vertrieben werden? So lautet eine dieser Zukunftsthesen, die mögliche Branchenentwicklungen veranschaulichen sollen, festgemacht am Datum 2030. Oder: »Wird es eine Relokalisierung der Arzneimittelproduktion in Europa in den kommenden fünf, zehn oder 15 Jahren geben?« – so lautet eine weitere. »Welche Rolle wird der 3‑D-Medikamentendruck für Produktion und Distribution spielen?« Final beantworten kann dies seriös wohl niemand, aber die Studie setzt hierbei auf die »Kollektivintelligenz«, die sich aus dem Spezialwissen möglichst vieler Expertinnen und Experten speist. Mit dieser so genannten Delphi-Methode, die demnach schon in der Antike geläufig war, sollen sich möglichst realistische Prognosen erstellen lassen. Quelle des gesammelten Spezialwissens sind der Studienbeschreibung zufolge 61 befragte Branchenexpertinnen und -experten, also Kenner der Generika- und Biosimilarbranche, von Biotech-Unternehmen und Start-Ups, dazu Ärzte, Großhändler und Apotheker, Krankenkassen und Medizintechnikunternehmen. Auch aus Laboren, Kliniken oder Hochschulen kamen demnach Einschätzungen zum Tragen.
Diese Einschätzungen sind aber offenbar nicht unfehlbar. Befragt zu den Themen Digitalisierung und Big Tech, winkten viele Kenner der Generikabranche ab und nahmen die Bedrohung nicht ernst genug, geben die Studienautoren zu bedenken. Auch dass kaum jemand in der Branche über die Konsequenzen von Digitaler Revolution, Digital Health oder Pharma 4.0 rede, irritiert die Autoren. Insgesamt fielen die Ergebnisse demnach oftmals nicht einhellig aus, sondern vieles blieb umstritten, etwa die Einschätzung, in welchem Ausmaß Biosimilars künftig Standard werden. Klare Bilder zu entwerfen, war aber wohl auch nicht Ziel der Erhebung; vielmehr geht es den Autoren offenbar darum, Möglichkeiten aufzuzeigen. Pro- und Contra-Boxen unter jeder erläuterten Zukunftsthese fassen dabei die unterschiedlichen Experteneinschätzungen noch einmal zusammen.
Was die Zukunft tatsächlich bringt, bleibt also zunächst weiterhin unklar. Fest stehe aber, dass für alle aufgezeigten Szenarien schon heute die Tendenzen angelegt würden, schreibt Pro-Generika-Geschäftsführer Bork Bretthauer in einem Statement. »Unsere Studie macht uns sehr deutlich, dass wir heute schon determinieren, wie die Welt von morgen aussehen wird.« Was die verlässliche Arzneimittelversorgung angeht, »stehen wir in Europa jetzt am Scheideweg«.