Versorgungsengpass soll zeitnah festgestellt werden |
Daniela Hüttemann |
26.01.2024 16:30 Uhr |
Mangelware: Die blaue PrEP-Pille Truvada® und vor allem die preisgünstigen Generika sind derzeit kaum zu bekommen. / Foto: Imago/Pond5 Images
»Wir konnten bisher noch alle Patienten versorgen, mussten aber tatsächlich bei den letzten Packungen der PrEP schauen, wer noch genug Tabletten hat und wer seine HIV-Therapie natürlich nicht unterbrechen darf«, berichtet aktuell Dirk Vongehr der Pharmazeutischen Zeitung. Der Inhaber der Kölner Paradies-Apotheke hat einen HIV-Schwerpunkt und betreut dementsprechend viele HIV-Patienten sowie gesunde Menschen, die die PrEP dauerhaft einnehmen, um sich nicht mit HIV anzustecken. Letztere sind in Deutschland derzeit nach Schätzungen knapp 40.000 Personen.
»Es ist ein schmaler Grat – was ist wichtiger, Therapie oder Prävention?«, sagt Vongehr. »Zum Glück stehen noch die Einzelwirkstoffe zur Verfügung (Emtricitabin und Tenofovir), und so könnten wir im Notfall jede Therapie fortführen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass am Ende dieser Knappheit ein Anstieg der HIV-Neuinfektionen zu verzeichnen ist.«
Das fürchten derzeit auch die Deutsche Aidshilfe und andere Fachorganisationen. Schon seit Monaten beklagen sie die Lieferengpässe. Bereits Ende November wandten sich die Deutsche Aids-Gesellschaft (DAIG) und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä) an den Bundeskanzler persönlich. Noch am 8. Dezember teilte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) der Pharmazeutischen Zeitung auf Nachfrage jedoch mit, insgesamt zeichne sich ein stabiles Bild der Versorgung ab.
Vergangene Woche schlugen die Fachgesellschaften, darunter auch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft HIV- und Hepatitis-kompetenter Apotheken (DAHKA), jedoch erneut Alarm. Denn am 11. Januar fand zwar ein Runder Tisch mit den Behörden statt, aber seitdem ist noch nichts passiert. Der Mangel an HIV-Medikamente eskaliere, so der eindringliche Hilferuf.
Laut einer neuen dagnä-Umfrage meldeten zuletzt 88,4 Prozent der Schwerpunktpraxen einen PrEP-Mangel. Die Mehrheit könne derzeit nur noch reduzierte Packungsgrößen herausgeben. 36,1 Prozent der Praxen sagten aus, dass PrEP-Nutzende die regelmäßige Einnahme unterbrechen mussten. 27,7 Prozent meldeten, dass in vielen Fällen in ihrer Praxis sogar laufende HIV-Therapien umgestellt werden mussten. Der Schaden sei groß, ein Anstieg der Neuinfektionen unter diesen Umständen unvermeidlich.
Bei manchen Menschen mit HIV werde Emtricitabin plus Tenofovir im Rahmen einer sogenannten Salvage-Therapie («Rettungs-Therapie«) eingesetzt, weil es zum Beispiel aufgrund von Resistenzen keine anderen Optionen mehr gebe. Hier komme die Nicht-Lieferbarkeit einer Katastrophe gleich.
Auf erneute, aktuelle Nachfrage schrieb das BfArM nun: »Die dem BfArM aktuell gemeldeten und in der Lieferengpass-Datenbank veröffentlichten Lieferengpässe sowie die zur Verfügung stehenden Marktdaten zeigen um den Jahreswechsel eine Entwicklung hin zu einer eingeschränkten Verfügbarkeit dieser Wirkstoffkombination (Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil) beziehungsweise bei den diese Wirkstoffkombination enthaltenden Fertigarzneimitteln. Das Gros der Lieferengpässe ist aktuell bis März beziehungsweise April prognostiziert – ein Lieferengpass bis Ende Januar.«
Aktuell fänden bei einzelnen Zulassungsinhabern Bemühungen statt, Warenkontingente zu vergrößern oder Warenkontingente früher als ursprünglich geplant für den Markt zur Verfügung zu stellen. Demnach werde sich die Verfügbarkeit dieser Arzneimittel Anfang Februar leicht stabilisieren.
Darüber hinaus kläre das BfArM aktuell mit Zulassungsinhabern, inwiefern überschüssige Kontingente im Ausland zur Verfügung stehen. Diese könnten gemäß den Möglichkeiten des § 73 Absatz 3 AMG oder der §§ 10 Absatz 1a und 11 Absatz 1a AMG (im letztgenannten durch eine Ausnahmegenehmigung des BfArM) für Deutschland zur Verfügung gestellt werden. »Eine erste Rückmeldung zeigt, dass Warenkontingente in den USA identifiziert werden konnten, die bereits auf Grundlage des § 73 Absatz 3 AMG von Apotheken importiert werden können«, so das BfArM.
Ob und wann ein offizieller Versorgungsengpass festgestellt werden soll, konnte das BfArM nicht sagen – hier liege die Verantwortung beim übergeordneten Bundesgesundheitsministerium. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte am Mittwochabend auf der Social-Media-Plattform X (vormals Twitter) gepostet:
Eine offizielle Nachfrage der PZ ergab, dass tatsächlich »zeitnah« der Versorgungsengpass formell festgestellt werden soll, was über eine Veröffentlichung im Bundesanzeiger passieren werde. Das BMG bestätigte, dass es auf Grundlage der aktuellen Analyse der Marktsituation Importe für die Präexpositions-Präparate ermöglichen und die Krankenkassen auffordern werde, die dadurch entstehenden Mehrkosten zu übernehmen. Darüber hinaus hätten Gespräche mit den Anbietern der Medikamente dazu geführt, dass die Produktion früher als bislang angekündigt wieder hochgefahren werden könne.
Das BMG informiert: »Aktuell bieten 20 pharmazeutische Unternehmen die genannte Arzneimittelkombination in Deutschland an, davon allerdings nur vier Unternehmen mit größeren Warenmengen. Bei drei Anbietern mit einem Marktanteil von zusammen 70 Prozent sind Lieferengpässe gemeldet.« Gründe für die Engpässe seien laut den Herstellern Probleme und Verzögerungen bei der Herstellung sowie eine erhöhte Nachfrage.
Der Ärzteverband dagnä begrüßte gegenüber der PZ sehr, dass sich Minister Lauterbach zum Thema geäußert und Maßnahmen ankündigt habe. »Allerdings haben dagnä, DAIG und DAHKA schon seit November Alarm geschlagen und das BMG aufgefordert einzugreifen. Gerade deswegen darf jetzt nicht noch mehr Zeit verloren werden, und der Versorgungsmangel muss so schnell wie möglich ausgesprochen werden«, betonte ein dagnä-Sprecher.
»Wenn das geschehen ist, müssen die grundsätzlichen Probleme angegangen werden, die das Versorgungssystem in Deutschland so anfällig für Engpässe machen – etwa die Rabattvertragspolitik. Diese erzeugt immer eine so massive Marktkonzentration von nur wenigen Herstellern, dass schon kleine Störungen in der Wertschöpfungskette sehr schnell Engpässe nach sich ziehen.«