Unterversorgung als unterschätztes Problem |
Melanie Höhn |
04.04.2025 11:00 Uhr |
Die Lieferengpässe bei Arzneimitteln würden ein Beispiel für eine bereits manifeste Unterversorgung darstellen und hätten in der Öffentlichkeit zu einer erheblichen Verunsicherung geführt, so die »Autorengruppe Gesundheit«. / © IMAGO/Eibner Europa
Das deutsche Gesundheitssystem befindet sich in einer tiefen Krise, heißt es in der Stellungnahme der »Autorengruppe Gesundheit«, die im Fachmagazin »Monitor Versorgungsforschung« erschienen ist. Die Wissenschaftler wollen das Thema Unterversorgung in den öffentlichen Diskurs stellen und kritisieren, dass es in fachlichen und wissenschaftlichen Kreisen mit »erheblicher Zurückhaltung« betrachtet werde. Für ihre Stellungnahme haben die Autoren fünf Themenbereiche untersucht: Arzneimittelversorgung, Krankenhäuser, hausärztliche Versorgung, Pflege und spezialfachärztliche Versorgung.
In Sachen Qualität und Patientensicherheit befinde sich Deutschland im internationalen Vergleich »bestenfalls im Mittelfeld«, erklären die Wissenschaftler in dem Papier »Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen – das unterschätzte Problem«. Die Digitalisierung – »als Allheilmittel angepriesen« – erhöhe teilweise den Bürokratieaufwand eher, als dass sie eine Hilfe darstelle. Hinzu komme ein »beachtlicher und sich schon lange ankündigender Fachkräftemangel in allen Berufsgruppen«. Die Team-basierte Zusammenarbeit der Professionen sei mangelhaft.
Ein Beispiel für eine bereits manifeste Unterversorgung seien Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Dieses Problem habe in der Öffentlichkeit zu einer erheblichen Verunsicherung geführt – insbesondere deshalb, weil es sich um Medikamente der Basisversorgung handele.
Historisch gesehen reiche diese Problematik über zehn Jahre zurück: So sei das Basismedikament Pyrimethamin zur Behandlung der Toxoplasmose und ein wichtiges Arzneimittel für AIDS-Patienten im Jahr 2015 von der Firma Turing aufgekauft und im Preis um den Faktor 50 erhöht worden, was zu einer ökonomisch vermittelten Zugangsbeschränkung geführt habe. Es seien andere Medikamente gefolgt, wie etwa Tamoxifen, Melphalan, Schmerzmittel oder essentielle Medikamente wie Insuline, Antibiotika, Betäubungsmittel oder Antidots gegen tödliche Schlangenbisse. Heute gebe es laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Zugangsprobleme bei insgesamt 506 Arzneimitteln.
Die Autoren betonen, dass der Begriff »Lieferengpässe« die Problematik nicht vollständig beschreibe, denn es handele sich meist nicht um eine Unterbrechung der Lieferketten, sondern um ökonomische Fehlanreize in der Herstellung. »Diese Dysfunktionalität des Arzneimittelmarktes erstaunt eigentlich«, heißt es in dem Papier – denn die Zulassung und die Übernahme in die Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei bisher in Deutschland über nutzenbasierte Entscheidungsabläufe des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) relativ rational gestaltet.
Die Regelungen nach dem Arzneimittel-Neuordnungsgesetz (AMNOG) von 2011 mit der Bewertung des Zusatznutzens nach 12 Monaten insbesondere gegenüber der »zweckmäßigen Vergleichstherapie« (§35a Absatz 1 Satz 2 SGB V) stünden dabei im Vordergrund. Zusätzlich habe §35b SGB V die Möglichkeit eröffnet, auch Angemessenheits-Gesichtspunkten wie Nebenwirkungen, Lebensqualität, oder »Zumutbarkeit einer Kostenübernahme« Rechnung zu tragen. Allerdings habe sich durch die Regelung zu den seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases) die Option ergeben, für einzelne Patientengruppen die Nutzenbewertung zu unterlaufen und Hochpreissegmente zu schaffen, da diese Patientengruppen aus der Nutzenbewertung ausgenommen wurden.
Diese »Orphanisierung« habe sich indirekt auch auf den Generika-Markt ausgewirkt, so die Autoren, da sie im Arzneimittelmarkt neue Preisvorstellungen gängig gemacht habe – die Produktion von »alten Molekülen« erschien im Vergleich zu den Hochpreissegmenten nicht mehr ertragreich genug und sei teilweise eingestellt oder zurückgefahren worden. Hier hätten auch die Rabattverfahren einerseits und die internationale Arbeitsteilung andererseits eine Rolle gespielt, die für bestimmte Medikamente weltweit nur noch wenige Produktionsstandorte vorgesehen habe.
Die bisherigen gesundheitspolitischen Maßnahmen zur Behebung der Defizite seien von beschränkter Wirksamkeit und lassen am politischen Willen zweifeln, sind sich die Autoren einig. Dem »Arzneimittelengpass-Bekämpfungs- und Versorgungsverbesserungs-Gesetz“ (ALBVVG) sowie den derzeit auf europäischer Ebene diskutieren Regelungen attestieren die Wissenschaftler angesichts der hohen Zahl gemeldeter Lieferengpässe »bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Wirkung«.
In der Gesamteinschätzung gehen die Autoren von einer »bedenklichen Anreizstruktur« aus, »in einem Umfeld, das von einem Anstieg der Arzneimittelkosten der GKV seit dem Jahr 2000 von 19,41 auf 50,41 Milliarden Euro im Jahr 2023 gekennzeichnet ist«. Derzeit würden 0,07 Prozent der Rezepte zu 12,7 Prozent der Arzneimittel-Ausgaben führen, 1,2 Prozent zu 24 Prozent der Kosten. »Der Hochpreissektor führt entsprechend, während die Innovation lahmt.«
Es sei absehbar, dass im Generika-Markt die Versuche zunehmen werden, entweder durch Verknappung eine Lockerung der Festpreise zu erreichen (über die Aufnahme in die Risiko-Liste des BfArM) oder über den Aufbau von Monopolen massive Preissteigerungen durchzusetzen.
Darüber hinaus kritisieren die Autoren, dass Facharzttermine für gesetzlich Krankenversicherte, wenn überhaupt, erst nach Monaten zu bekommen seien. Privatversicherte würden bevorzugt, weil ihre Behandlung in den Arztpraxen mehr als doppelt so hoch vergütet werde wie in der kassenärztlichen Versorgung. Die Übergänge zwischen den Versorgungsebenen wie etwa ambulanten Praxen, Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen würden immer schwieriger werden.